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Lieben Lernen

Laila Dregger
Laila Dregger

Wenn die Liebe, der Endzweck des Universums ist, dann sollten wir doch endlich investieren, die Liebe zu lernen. Ja, richtig, Lernen! Sicher stimmt es, dass wir alle mit Herzen geboren wurden, die ein volles Potential zur Liebe besitzen. Aber wir wurden auch mit zehn geschickten Fingern geboren, was uns noch nicht zu Klaviervirtuosen macht. Im Gegenteil: Unsere Liebesfähigkeit wird in Schule und Ausbildung nicht nur nicht gefördert, sie wird uns sogar systematisch abtrainiert, und das beginnt schon im Kindergarten. Meine Geschichte ist nur ein Beispiel.

Kindergarten war purer Horror. Auf einmal unter Fremden, weit weg von den eigenen Spielsachen, von allem Vertrauten, und alles roch so komisch. Panik! Etwas im Inneren schaltete auf Überlebensmodus, versteckte sich tief – bis ich wieder nach Hause durfte.

Schule hieß: stillsitzen. Toben, Sachen umschmeißen, schreien und jeder andere Lebensimpuls wurde bestraft mit Ohrfeige oder Ecke-Stehen. Doch dann fand ich heraus, was sie von mir wollten und was ich tun konnte, um mich besser zu fühlen: Leistung! Und so lernte ich, Erwartungen nicht nur zu entsprechen, sondern sie zu übertreffen. Niemand in der ganzen Schule konnte so gut lesen und schreiben wie ich. Ich wusste die Antworten der Rechenaufgaben, noch bevor sie ganz ausgesprochen waren, und schaufelte ganze Abschnitte aus Büchern problemlos in mein Kurzzeitgedächtnis, um es auf Kommando abzuspulen. Als ich einmal bei einer Mathe-Klassenarbeit der Sitznachbarin die Lösung vorsagte, wurde ich prompt erwischt und bekam eine sechs. Auch die Klassenkameradin wertete den Versuch nicht als Freundschaftsgeste, sondern als Arroganz. “Gegenseitige Hilfe lohnt sich nicht”, war die Botschaft, die bei mir hängenblieb. “Kümmere dich um dich selbst, dann kommst du durch”.

Wer hat diese Schulen erfunden, die aus Kindern kleine Soldaten schmieden für den Apparat, der unsere Leistungsgesellschaft aufrecht hält?

Mit der Pubertät scherte ich aus. Vom Wunderkind zur Lernverweigerin und chronischen Störerin des Unterrichts – zunächst durch fantasievolle Streiche, dann durch Taub- und Stummstellen und in die Luft starren, schließlich durch Schwänzen. Was wir lernen sollten, war quälend langweilig, vom chemischen Periodensystem bis zur Königsfolge. In mir schrie ein ganz anderes Leben. Da wollte ich lieber zu den Schlimmen gehören, zu denen, vor denen uns die Erwachsenen warnten. Ich übte rauchen, ging bei Demonstrationen mit, deren Ziel ich nicht verstand, knutschte mit fremden Jungs, tat alles, was meine Eltern schlimm fanden – und alles nur um, wie ich heute weiß, Nähe und Zugehörigkeit zu finden.

Ich war ein begabtes Kind, aber als dann die Sache mit der Liebe anfing, fehlte mir jegliches Talent. Ich kanzelte Jungs ab, die sich mir zu nähern versuchten, schüchterte sie ein mit meiner Coolness, die doch nur den inneren Schrei übertönen sollte: Liebe mich doch endlich! Nimm mich doch endlich mal einer in den Arm! Meine Burgmauer von Unsicherheit und Verschlossenheit konnte lange niemand einreißen. Das Gespräch mit anderen Mädchen half nicht viel, hier galt unerbittliche Konkurrenz: Besser sein, schlanker sein, schöner sein, geheimnisvoller sein. Wenn ein anderes Mädchen den gleichen Jungen mochte wie ich, dann zog ich mich zurück. Cool-Sein war die große Entdeckung. Endlich schmerzfrei.

Warum hat uns damals niemand gesagt oder gezeigt, dass weder Leistung noch Coolness irgendwie weiterhelfen in der Liebe? Dass es im Gegenteil um Kontaktaufnahme geht, um Öffnung, um Interesse am anderen, darum, sich zu zeigen, auch und gerade in den Bereichen, wo wir verletzlich sind? Was hätten wir uns sparen können!

In meinem Fall gab es eine erste Erlösung, als ich mit 16 die Schülerzeitung gründete. Endlich fanden wir einen Kanal für unseren Energieüberschuss, und mit der Teamarbeit kamen echtes und ehrliches Miteinander, große Herausforderungen, Erfolg, Solidarität und dann – endlich! – Liebe in mein Leben. Wir lernten, professionell mit unserer Wut umzugehen.

Könnten wir nicht auch in der Liebe solche Profis werden? Wer Volkswirt, Mechaniker oder Musiker wird, überlässt seinen Werdegang nicht dem Zufall. Er wird Jahre lang lernen, ausprobieren und studieren. Er wird Fehler machen und sich korrigieren lassen, sich auch nach dem Ausbildung weiterbilden, mit anderen vernetzen, sich über Weiterentwicklungen in seinem Fach informieren, spezialisieren und vielleicht sogar zum Meister seines Faches werden. Im Grunde hört das Lernen nie auf.

Nur wer lieben will, glaubt, es sofort können zu müssen. Das Schwierige scheint einzig die Suche des richtigen Partners. Wenn wir den einmal haben, sind wir selig. Wir haben es geschafft. Jetzt sollen alle Erwartungen erfüllt werden, die sich im Laufe unseres Lebens angesammelt haben. Wir schweben im siebten Himmel und tauchen alle Fehler des Geliebten in schönstes Rosa. Wir finden sie vielleicht sogar süß. Schließlich lieben wir, was kann da denn schon passieren! Es gibt auch keinen Zweifel, dass er uns liebt. Oder?

Wenn die Fehler des anderen deutlicher werden, wagen wir zunächst nicht, etwas zu sagen. Lächeln, Blicke, Andeutungen, … bis uns die Hutschnur platzt!

Auf einmal bricht die ganze angesammelte Wut hervor, und das meistens über Nebensächlichkeiten. So mancher Mann staunt, wie seine holde Geliebte zum Drachen wird, zur Furie, dabei hat er doch nur vergessen, die Schuhe abzuputzen. Die meisten Liebenden haben nie gelernt, rechtzeitig die Dinge anzusprechen, die ihnen wirklich wichtig sind. Wenn sie es dann doch tun, dann ist schon meistens Vorwurf dabei. “Warum hat er nicht von selbst gewusst, wie viel mir dieser Tag bedeutet und dass ich ihn jetzt gebraucht hätte?”

Tja – weil ich es ihm nicht gesagt habe! In Wirklichkeit ist der Honeymoon vorbei, der Lack der Projektion ist abgebröckelt, und die eigentliche Arbeit der Partnerschaft beginnt. Doch die meisten entscheiden sich in diesem Moment schon für die Trennung und gehen wieder auf die Pirsch, getreu dem Motto: Beim nächsten Mann wird alles anders. Was nie stimmt.

Mein Lernfeld für die Liebe ist das Leben in Gemeinschaft mit Menschen vieler Altersgruppen, Vorlieben, Lebens- und Liebesweisen. Während die meisten Menschen ihre Nähe nur hinter verschlossenen Türen leben, ganz privat, bekommt man bei uns etwas voneinander mit. Man kann auch einspringen und unterstützen, wenn ein Paar sich missversteht. Und man lernt unendlich viel voneinander.

Es ist z.B. ein echtes Geschenk, zu erfahren, dass es fast allen Menschen ähnlich geht in der Liebe. Dass sogar die schönste Frau immer noch heimlich fürchtet, sie sei nicht schön genug. Dass daher unsere Frauenfreundschaften permanent von unterschwelliger Konkurrenz begleitet sind und es sich richtig lohnt, diese zu überwinden. Dass wir nach und nach auf Vertrauen setzen können, statt gnadenlose Eifersucht. Dass wir vom Partner nicht mehr erwarten müssen, uns jeden Wunsch von den Lippen abzulesen und jede geheime Sehnsucht zu erfüllen – sondern selbst dazu beitragen können, die Liebe immer wieder aufs Neue zu zelebrieren. Zu wissen, wann wir Abstand brauchen und wann mehr Nähe wichtig ist. Dass Treue nicht heißt, andere Menschen auszuschließen, sondern im anderen immer wieder etwas Neues zu entdecken. Dass Liebe ein soziales Kunstwerk ist.

Leila Dregger (58) ist Journalistin und Buchautorin. Sie lebt in Tamera bei Odemira und schreibt seit 2015 für ECO123. Ihr jüngstes Buch, erschienen im Verlag Edition Zeitpunkt in Solothurn (CH), trägt den Titel „Frau-Sein allein genügt nicht“. Sie lebt die Auffassung „Es wird auf der Welt keinen Frieden geben, solange in der Liebe Krieg ist“.

 

Dregger_Frau-Sein allein genügt nichtLeila Dregger (58) ist Journalistin und Buchautorin. Sie lebt in Tamera bei Odemira und schreibt seit 2015 für ECO123. Ihr jüngstes Buch, erschienen im Verlag Edition Zeitpunkt in Solothurn (CH), trägt den Titel „Frau-Sein allein genügt nicht“. Sie lebt die Auffassung „Es wird auf der Welt keinen Frieden geben, solange in der Liebe Krieg ist“.

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