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Welchen Wert hat die Kultur?

Foto - Alexandre Moura

Kann Kultur unabhängig von Subventionen leben? Giacomo Scalisi arbeitet seit vielen Jahren als Schauspieler, Intendant und Kulturschaffender und hat im Laufe seiner Karriere bei vielen Projekten, Theaterensembles sowie bei der Organisation von internationalen Festivals mitgewirkt. 1998 kam er nach Portugal und leitete bis 2008 als Programmdirektor das Kulturprogramm für Theater und Neuen Zirkus im Centro Cultural de Belém (CCB). Gegenwärtig verfolgt er seine eigenen Projekte im Bereich künstlerischer Produktion. Der in Portugal verwurzelte Italiener betont, dass Kultur Subventionen zum Überleben braucht und dass es Aufgabe des Staates sei, den Bürgern Zugang zur Kultur zu ermöglichen.
Kann ein Sinfonieorchester mit ca. 80 Mitgliedern bei einem Lohn von 750 Euro pro Musiker nur von den Eintrittsgeldern überleben? Oder sollten wir klassische Musik aus unserem Leben verbannen?

ECO123: Verwandeln wir das Konzept des Zirkus und das Lächeln des Clowns, mit dem er seinen Lebensunterhalt verdient, in eine Wirtschaftsleistung?
G.S.: Der Clown bringt uns nicht nur zum Lachen, sondern auch zum Nachdenken und hat die Freiheit, uns in allen Bereichen zu provozieren, sei es politisch, kulturell oder ethisch. Als Clown darf man alles sagen, was vielleicht einen nachhaltigen Eindruck bei jedem Menschen hinterlassen kann.

Wie sind die momentanen Aussichten der von Subventionen abhängigen Kultur?

Giacomo Scalisi
Giacomo Scalisi

Es ist wichtig, den Unterschied zwischen Kultur und Entertainment zu definieren. Entertainment ist eine Form, Darbietungen zu produzieren und die Zuschauer mit oftmals kommerziellen Produktionen zu unterhalten, die sich selbst finanzieren. So zum Beispiel beim Cirque du Soleil, bei Eisrevuen oder bei großen Konzerten. Kultur ist etwas ganz anderes, sie ist grundlegend und notwendig, sie ist nicht nur Unterhaltung, sondern Bildung und verhilft dem Menschen zu einem erfüllteren Leben und bei der Entwicklung der Gesellschaft. Es obliegt dem portugiesischen Staat, diesen Bereich zu finanzieren. So wie die Schulen, die für eine Grundbildung in der Gesellschaft Sorge tragen, oder der Gesundheitsbereich, steht die Kultur auf gleicher Stufe. Abhängigkeit von Unterstützung und Subventionen ist kein Grund zur Trauer. Es handelt sich nicht um einen Akt der Wohltätigkeit, sondern um die Verpflichtung des Staates Künstler zu finanzieren, damit diese schöpferisch arbeiten und den Bürgern Zugang zur Kultur ermöglichen können.

Das klingt ein bisschen nach „Subventionskultur“, kann Kultur dennoch unabhängig und frei bleiben?
Die Tatsache, dass Kultur vom Staat finanziert wird, bedeutet keine Abhängigkeit in künstlerischer und kreativer Hinsicht. Es handelt sich um Projekte die nicht nur von den Eintrittsgeldern leben können, es sei denn es gelänge größere Publikumsmassen anzuziehen, aber dann begeben wir uns auf das Feld der Unterhaltung. Zirkus wurde zur Unterhaltung, ist aber traditionell eine fast ausgestorbene Kunst und ein wichtiger Teil unseres kollektiven Erinnerns. Abgesehen von der Tierproblematik sollte der Zirkus unterstützt werden, um überleben zu können. Auch der traditionelle Zirkus verändert sich. Der neue Zirkus ist etwas anderes. Er nähert sich den darstellenden Künsten und begibt sich auf eine Forschungsreise in unterschiedliche, durch die Kunst angeregte Kommunikationsformen, die ihre eigene Sprache des Kunstschaffens hervorbringen.

Kann Kultur ohne Subventionen funktionieren?
In Portugal gab es Subventionskürzungen die alle Künstler in die Knie zwangen. Einigen wurde damit die Existenzgrundlage entzogen. Eines der großen Probleme Portugals besteht darin, dass beim Wegfall von europäischen Fördergeldern die Projekte sterben. Die Rathäuser verfügen nicht über die nötigen finanziellen Mittel, aber oftmals fehlt es auch am Willen. Kultur braucht Fördergelder, um existieren zu können, aber wir suchen auch nach anderen Finanzierungsmöglichkeiten, wie zum Beispiel durch Firmen, auch wenn dies in Portugal nicht verbreitet ist. In Kanada zum Beispiel leisten die Firmen einen großen Beitrag zur Unterstützung der Kultur. Diese Möglichkeit gibt es.

Eine Finanzierung der Kultur durch das Publikum steht außer Frage?
Es ist wichtig, das Kultur von den Bürgern finanziert wird und es entstehen neue Formen der Finanzierung, wie das Crowdfunding.
Die Eintrittskarten werden im Voraus bezahlt und so entsteht ein Fond der es ermöglicht, Projekte anzuschieben. In Portugal stehen wir vor einem sehr schweren Problem. Die Produktionen erfordern hohe Investitionen und es fehlt an den entsprechenden Bedingungen für nationale und internationale Tourneen.

Es gibt wenig Hilfsprogramme zur Internationalisierung und auf nationaler Ebene fehlt es an Möglichkeiten, die entstandenen Kosten aufzufangen. Hier drehen wir uns im Kreis. Wenn die Theater und Rathäuser kein Geld haben, um ein Kulturprogramm aufzustellen, können keine Theaterensembles verpflichtet werden. Theaterensembles ohne Engagements haben keine finanziellen Mittel und die Inszenierungen werden zwei, drei oder viermal aufgeführt und dann eingestellt. Danach müssen sie mit einer neuen Inszenierung weitermachen.

Giacomo Scalisi ator, director artístico ou programador cultural

Und wenn die Theaterensembles die Tourneen selbst in die Hand nehmen würden?
Das versuchen sie und einige schaffen das auch. Zum Beispiel und als Referenz unternimmt das Teatro Meridional von Miguel Seabra heimische und manchmal auch internationale Tourneen. Tiago Rodrigues vom Teatro Nacional macht auch Tourneen im Land. Es gibt eine Reihe von Mechanismen die implementiert werden, aber es ist nicht einfach.

Stellen Sie sich vor, die Subventionen würden heute eingestellt – was würden Sie tun um Ihre künstlerischen Werke fortführen zu können?
Es gibt keine Alternative zu den Förderungen – nicht in Portugal, eine Tournee mit dreißig Vorstellungen wäre unmöglich, zu realisieren. Wenn ich mich als Künstler an eine Firma wende und ein Projekt vorstelle, stoße ich auf taube Ohren. Ich kann ohne Bezahlung arbeiten und danach versuchen meine Produktion zu verkaufen. Aber wenn das nicht klappt, bleibt es brotlose Kunst. Man kann Werbespots drehen oder Fernsehserien und den Lebensunterhalt nicht mit Kunst, sondern Unterhaltung verdienen. Es werden dann Vorführungen finanziert, indem das eigene Geld ins Ensemble gesteckt wird. Viele Schauspieler machen das so.

Hat die Kultur in Portugal Grund zur Freude?
Die Kultur ist nie sehr heiter, das kann sie auch gar nicht sein. Kultur begleitet die gesellschaftlichen Ereignisse und im Moment gibt es wenig, was uns glücklich macht. Ich spreche von nationalen oder internationalen politischen Gesichtspunkten, die in der Gesellschaft vorherrschen. Unsere Gesellschaft wird von wirtschaftlicher Macht dominiert. Zum Beispiel wird im Algarve der Versuch unternommen im Meer Öl zu finden, wo doch Energie aus Erdöl durch andere zukunftsweisende Energien ersetzt werden soll. Es besteht die Gefahr der Kontamination von Naturparadiesen. Im Moment zählen Macht und Geld, was oftmals den konkreten Lebensumständen der Menschen zuwiderläuft.

Könnte ein Bedingungsloses Grundeinkommen die Kaufkraft der Bürger derart stärken, dass sie eventuell mehr Geld für Kultur ausgeben?
Ich halte es für einen interessanten Vorschlag, den Menschen ein würdevolles Leben zu ermöglichen, den Bedürftigen einen Mindeststandart der Lebensumstände zu gewähren und den schwächsten Bevölkerungsschichten zu helfen. Davon, so glaube ich, wird auch die Kultur profitieren.

Wird die Kultur von einem nicht kaufkräftigen Publikum eingeschränkt?
Wir leben in einer sehr armen Gesellschaft, die meisten Menschen leben an der Armutsgrenze. Auch die Mittelklasse ist verarmt. Viele Leute können nur einmal im Monat, oder sogar nur alle sechs Monate zu einer Vorstellung gehen. Dann werden bekannte Vorstellungen ausgesucht, weil man sich nur die eine leisten kann. Lieber gibt man 30 Euro pro Jahr aus, um den Cirque du Soleil zu sehen, als für vier Veranstaltungen des neuen, unbekannten Zirkus. Es ist schwierig, sich kulturelles Leben unter diesen Umständen vorzustellen, aber die Gesellschaft als Ganzes lebt so.

Wieso in Kultur investieren, worin liegt ihre Kraft?
In der Kultur liegt eine magische Kraft und die Inhalte die transportiert werden können, sind fantastisch. Sie können direkte gesellschaftliche Bezüge aufweisen und den Menschen dazu anregen, mit eigenem Kopf zu denken und nicht nur die Freude des Lachens zu entdecken, sondern über das Leben an sich, die Beziehung zu den Kindern, der Familie, der Gesellschaft zu reflektieren. Kultur ist ein Medium, das in die Gesellschaft eindringen kann, um zu versuchen, diese zum Besseren zu verändern. Es gibt Studien die belegen, dass Länder mit hoher Frequentierung des Kulturangebots eine Reihe von Vorteilen in gesundheitlicher und psychologischer Hinsicht, oder in Bezug auf die Lebensfreude vorweisen können.

Vielen Dank.

About the author

Alexandre Moura (39). Journalist, gebürtiger Farense. Seit dem Jahr 2000 arbeitet für landesweite und regionale  Presse, für das Fernsehen und verschiedene Radios in den Bereichen des aktuellen Tagesjournalismus ebenso wie in des Ressorts Kultur, Sport und allgemeine Information.

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