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Es gibt keinen Planeten B

Was hat Ihr Interesse für die Umwelt geweckt?
Ich habe begonnen, mich für die Konsumgesellschaft zu interessieren, die Mitte der achtziger Jahre in Portugal entstand. Ich fing an für den Expresso zu arbeiten, in einer Abteilung, die sich Verbraucherbörse nannte. Wir befanden uns in einer geschlossenen Gesellschaft, einem sehr begrenzten Markt und mit den Beitrittsvorbereitungen in die Europäische Union stiegen wir in den Zug der Marktwirtschaft ein und erlebten einen schonungslosen, nie dagewesenen Konsumboom ohne jegliche Umweltbestimmungen. Wir schafften immense externe Effekte und was die Umwelt angeht, starke negative Einflüsse. Ein sehr interessanter Indikator ist die Abfallproduktion. Immer wenn sich eine Gesellschaft in einer Wachstumsperiode befindet, produziert sie viel mehr Abfall. Aber es gab keine Aufbereitung, keine Mülltrennung, es gab gar nichts. Alles wurde auf die Müllhalden unter freiem Himmel gebracht, von denen wir in ganz Portugal 300 hatten. Es existierten weder Gesetze, noch Regeln oder Obergrenzen.

Die Umwelt betrifft alle Lebensbereiche…
Es geht nicht nur um Themen wie Abfall, Wasser, sondern auch um die fehlende Raumplanung des Landes, die auch zum Wachstumsmodell Portugals gehörte. In den neunziger Jahren wurde sehr viel gebaut, sowohl im öffentlichen, als auch im privaten Bereich, was eine Reihe von Problemen in Bereichen der Raumplanung und des Naturschutzes mit sich brachte. Das Land wurde über viele Jahre gewaltsam an der Entwicklung gehindert, so dass es der Gesellschaft selbst schwerfiel, die Schutzgebiete zu würdigen. So auch bei der Schaffung des Umweltministeriums und der Aufnahme entsprechender Direktiven ins portugiesische Recht.

Hat die Expo98 dazu beigetragen, unseren Blick in Bezug auf Umweltfragen zu schärfen?
Die Expo98 hatte zwei wichtige Aspekte. Einerseits ging es um die Frage der Weltmeere. Es hat lange gedauert, bis das Land lernte, die Problematik des Meeres und der Ozeane als wichtige sozioökonomische Thematik anzuerkennen. Andererseits ging es um die Fähigkeit, zerstörte Flächen wieder nutzbar zu machen. Unglücklicherweise geschah das „auf portugiesische Art“, es fing vielversprechend mit der Entgiftung der Böden an, wurde dann aber – wie sich heute zeigt – zum Teil stümperhaft fortgesetzt.

Aus urbaner Perspektive war das eine sehr interessante und sehr wichtige Rehabilitierungsmaßnahme, wenn auch unter zu großen Belastungen. Es war auch die erste mit der wir der wichtigen Rolle des beinahe schon exzessiven Booms des Tourismus Rechnung getragen haben. Wir Portugiesen neigen dazu, in sehr unüberlegter Weise von 0 auf 100 zu kommen und das hat uns einige Probleme beschert. Wir müssen mehr Rationalität bei strategischen Entscheidungen walten lassen.

 Luísa Schmidt - investigadora no Instituto de Ciências Sociais da Universidade de Lisboa, jornalista, escritora, membro do Conselho Nacional de Ambiente e Desenvolvimento Sustentável
Luísa Schmidt

Möchte Ihr Buch diese Erinnerung wachhalten und uns aufzeigen, was getan wurde und was nicht?
Ja, ich denke, dass vor allem das meine Absicht war. Ich habe zu jedem dieser Themen seit den 90er Jahren Berichte, Interviews und Reportagen zusammengetragen und stelle sie in einen Rahmen, der uns Hinweise darauf gibt, was heute auf vielen Ebenen geschieht. Es wird aufgezeigt, wer verantwortlich war, wer die Entscheidungen getroffen hat – im Grunde wer für das Gemeinwohl und das öffentliche Interesse gekämpft hat, und wer nicht. Es ist wichtig, diese Entwicklung zu verstehen, um herauszufinden, warum wir uns immer wieder in einigen Entscheidungsprozessen verstricken.

Manche Artikel erschrecken mich ein wenig, da sie in der heutigen Zeit geschrieben worden sein könnten. Wie bei der Frage des Waldes. Dieses „Stop and Go“ der Umweltpolitik und des Naturschutzes führt immer zu schlechten Ergebnissen. Letztes Jahr haben wir gesehen, was auf Grund fehlenden forstwirtschaftlichen Managements und den daraus resultierenden Bränden, die überall auftraten, passieren kann.

Auch die Zivilgesellschaft ist sensibler für diese Fragen…
Die Zivilgesellschaft hat zwischenzeitlich auch begonnen, sich auf eine ganz andere Art mit Umwelt und Naturschutz zu beschäftigen, wobei die jüngeren Generationen schon über eine viel stärkere Umwelterziehung verfügen.

Auch die Kommunalbehörden entwickeln sich positiv. Wir arbeiten an einem Projekt mit 26 Gemeinden unter Einbeziehung der örtlichen Bevölkerung an der Erarbeitung von Strategien zur Anpassung an lokale Folgen des Klimawandels. Man trifft auf eine ganz andere Geisteshaltung, sowohl bei den Bürgermeistern und Verwaltungsbeamten, als auch bei Behörden und Einwohnern.

Ich glaube, dass sich unter höheren Anforderungen und größerer Transparenz bei Entscheidungsprozessen die Dinge positiv entwickelt haben.

Was wurde im Bereich der Umwelterziehung – vor allem bei den Jüngsten getan?

Die Blütezeit der Umwelterziehung war in der zweiten Hälfte der 90er Jahre, als António Guterres seine Leidenschaft für Bildung erklärte und für dieses Thema sensibilisierte Personen ins Bildungsministerium berief, die dafür sorgten, dass sich Bildungs-, Umwelt- und Arbeitsministerium damit identifizierten.

Das prägte die Generation, die jetzt an den entscheidenden Stellen in Kommunalbehörden sitzt und ein viel größeres Bewusstsein in Bezug auf Umweltfragen hat.

In der Umwelterziehung können wir diese Themen verankern und attraktiver machen. Aber 2009 wurde das Unterrichtsfach „Area de Projecto“ abgeschafft, das sehr wichtig war, weil dort die Erziehung zu aufmerksamen Bürgern mit offenem Ohr für die Probleme in der heutigen Welt stattfinden konnte. Diese Themen beherrschen unseren Alltag, das sehen wir beim Pariser Klimaabkommen. Es ist kein Problem der USA, es ist ein Problem des Planeten und der Menschheit. Heutzutage müssen Kinder und Jugendliche eine viel profundere Bildung bezüglich der auf sie zukommenden Probleme erhalten, die viel mit diesen Themen zu tun haben, wie Umwelt, Wissenschaft …

Die Fragen der Menschlichkeit und die menschlichen Werte…
Humanistische und umweltbezogene Werte stehen in großem Zusammenhang. Zum Beispiel in der Enzyklika des Papstes Laudato Si´, wenn diese isolationistischen Führer sagen „wir sind so“ und der Rest der Welt soll schauen wo er bleibt, geht uns dass alle an. Wir sind davon betroffen, es gibt keinen Planeten B. Deswegen müssen wir alle zusammenarbeiten, um hier weiter unter menschenwürdigen Bedingungen leben zu können. Der perverse positive Effekt von Donald Trumps Gesinnung ist das Entstehen von etwas, das in der Soziologie als Phänomen der Subpolitik bezeichnet wird, nämlich der Zusammenschluss von Interessenvertretern, Personen und Gruppen, die wahrscheinlich nicht zusammengefunden hätten, wäre nicht, wie in diesem Fall, ein allgemeines Übel zu bekämpfen.

Erreicht die wissenschaftliche Kommunikation wirklich die Menschen?
Die neuen Forschungsbudgets legen großen Wert auf offene Wissenschaft und die Weiterverbreitung von Wissenschaft und Forschung. Entscheidungen werden heute oft aufgrund wissenschaftlicher Forschungsergebnisse und Erkenntnisse getroffen, die aus der Wissenschaft an Politiker und an die Bevölkerung weitergeben werden. Hieraus entsteht die soziale Verantwortung des Wissenschaftlers. Die Menschen brauchen eine Entschlüsselung dessen, was auf wissenschaftlicher Ebene passiert und müssen auch öfter ihre eigene Wissenschaft entwickeln. Das lokale Wissen erhält immer größere Bedeutung.

Ist den Politikern die Bedeutung der Wissenschaft bei ihrer Entscheidungsfindung bewusst?
Diese Regierung möchte mit einem bald erscheinenden Dokument über offene Wissenschaft, eine neue Dynamik schaffen. Nicht nur auf der Ebene des Datenzugangs aus Laboratorien, Universitäten, Forschungszentren und der öffentlichen Verwaltung, sondern auch zu Bewertungen dieser Daten von Forschern und Professoren, wobei auch die wissenschaftliche Kommunikation eine Rolle spielt, oder mit anderen Worten das, was soziale Verantwortung des Wissenschaftlers genannt wird.

Das Dokument handelt auch von dem, was wir schon seit langem fordern, nämlich der Bürgerwissenschaft, oder um ein Beispiel zu nennen: es sind die Jugendlichen und Kinder selbst, die auf verantwortliche Weise Daten über ihre Gemeinden zusammentragen. So werden sie ins lokale und nationale Leben involviert und beginnen die Dinge besser zu verstehen. Wir vertreten auch die Idee eines sozialen Jahres, das egal wo, der Gesellschaft und dem Allgemeinwohl gewidmet sein soll.

Hat der Boom in Portugal auf den Tourismus zu setzen auch negative Auswirkungen?
Ich denke, Portugal hat einen Cluster, der viel stärker bearbeitet werden sollte, nämlich den Gesundheitstourismus, der mit den Thermen verbunden ist. Wir haben absolut fantastische Thermalquellen und eine alternde Bevölkerung in Europa. Einige der Gebiete die dem Massentourismus gewidmet waren, haben nicht nur bei den Menschen stark an Beliebtheit verloren, sondern können sich auf Dauer wahrscheinlich auch nicht halten, da sie keinen Strand mehr haben werden. Wir müssen in nachhaltigeren Tourismus investieren, in Naturtourismus, in birdwatching, zum Beispiel. Es gibt schon sehr viele Touristen, die genau das suchen.

Damit der Tourismus nicht zu einer zerstörerischen Aktivität wird, dürfen wir in Bezug auf Lissabon nicht weiter zusehen, wie die Leute aus ihren Stadtvierteln vertrieben werden, wie dies zur Zeit der Fall ist. Wir verlieren unsere Charaktermerkmale. Was interessant ist in einer Stadt wie Lissabon, ist die soziale Mischung und die Kultur, diese unterschiedliche, vielfältige Bevölkerung in den alten Stadtteilen.

Sprechen wir nun über Sie, Luisa, welche Rolle spielt das Thema Umwelt in ihrem täglichen Leben?
Ich hatte das Glück, mich an der Universität mit dem Thema Umwelt, Konsum und Kommunikation beschäftigen zu können und gleichzeitig im Journalismus zu arbeiten, oder anders ausgedrückt, zu versuchen, auf die Gesellschaft Einfluss zu nehmen. Auf der Universität gelingt es mir durch meine Arbeit zu verstehen, „wie man das Zimmer aufräumt“ und dann im Journalismus kann ich „einen Fuß in die Tür bekommen“, oder anders gesagt, mich oft der Beschwerde und manchmal der Pädagogik bedienen, um diese Themen öffentlich zu machen, damit sie diskutiert werden und auf diese Art versuche ich, Einfluss zu nehmen.

In meinem täglichen Leben versuche ich, was den Abfall anbelangt nicht nur zu trennen, sondern auch so weit wie möglich zu reduzieren. Ich benutze keine Plastiktüten mehr und nehme wiederverwendbare Einkaufstaschen. Was die Verschwendung von Nahrungsmitteln angeht, ein Thema das mich schon immer beschäftigt, versuche ich diese gänzlich zu vermeiden. Das einzige, was ich leider nicht lassen kann ist, mit meinem Auto zur Universität zu fahren. Ich bin höchst sensibel was die Themen energetische Effizienz und Lärm anbelangt, habe großen Respekt vor allem, was mit Wasser zu tun hat und gehe damit sehr bewusst um. Ich versuche also all dem zu folgen, was ich auch lehre. Ich mache auf Einladung viele Veranstaltungen in Schulen, Gemeinde und in den Medien und schreibe im Expresso. Ich bin immer bereit, alle Herausforderungen anzunehmen, um so zur Verbesserung der Situation des Landes beizutragen, denn ich bin bei dem, was ich tue, auch Patriotin.

Wo kann man ansetzen, um das Gemeinwohl zu stärken?
In der Schule, sei es in der Grundschule, sei es auf der Universität, in den Gemeinden und in den Medien, in den Nichtregierungsorganisationen und auch in den Unternehmen. Im UNESCO-Dokument Dekade der Erziehung zur nachhaltigen Entwicklung erklärt die Gruppe der nationalen Kommission, wo es einzuschreiten gilt und wo Möglichkeit zur Veränderung besteht. Es wird immer wichtiger, vor allem mit den Schulen zusammenzuarbeiten. Die Bildung ist Grundvoraussetzung für alles. Heutzutage kann man diese nicht betrachten, ohne die Umwelt mit den damit verbundenen sozialen, kulturellen und sogar wirtschaftlichen Aspekten, einer mehr und mehr entstehenden Kreislaufwirtschaft, im Blickfeld zu haben.

Wie wollen wir leben?
Das ist die wichtigste Frage. Wir wollen eine bessere Umwelt, bessere und qualifiziertere öffentliche Gesundheitsversorgung, mehr Lebensqualität, mehr soziale und ökologische Gerechtigkeit, mehr Gleichheit, weniger soziale Ungleichheiten, eine ressourcenschonendere Wirtschaft, das heißt eine grüne, oder Kreislaufwirtschaft, in der alles wiederverwertbar ist. In erster Linie wollen wir in einer Form leben, die für alle zufriedenstellender ist. Mit gleichermaßen lokalem und globalem Bewusstsein und mit mehr Wissen und Wissenschaft, mit mehr Vertrauen in die Führungskräfte gleich welcher Art, aber auch mit mehr Ethik und mehr Verantwortlichkeit seitens der Führungskräfte. Und wir wollen auch mit mehr Hoffnung leben.

Danke.

Mit einer besseren Umwelt auf unserem Planeten zu leben ist der Wunsch von Luisa Schmidt, einer Frau, die Herausforderungen annimmt und sich grundlegend mit Fragen der Fairness und Gerechtigkeit beschäftigt. Luisa Schmidt ist Forscherin am Institut für Sozialwissenschaften der Universidade de Lisboa, Journalistin, Schriftstellerin, Mitglied des Nationalrats für Umwelt und nachhaltige Entwicklung (CNADS) der portugiesischen Regierung. ECO123 spricht mit ihr auch über ihr neues Buch Portugal: Umgebungen im Wandel. Fehler, Lügen und Errungenschaften, eine Reflektion über eine Reihe von ihr als Kolumnistin in der Wochenzeitung Expresso veröffentlichte Artikel.

Rosália Cera

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