Samstag, der 20. Mai 2023.
Teil1.
Am 5. November ging Lenz allein durchs Gebirge. Die Gipfel und hohen Bergflächen glänzten in der Sonne, die Täler hinunter hatten grüne Flächen nach dem Regen. Bäche rauschten über Felsen und der Eukalyptus wog hin und her. Es war wieder etwas wärmer geworden. Am Himmel zogen Wolken von Norden nach Süden, als hätten sie es eilig. Die Schirmpinien über ihm schluckten den starken Wind. Die Luft war feucht und in den langen Tälern, die sich vom Gipfel des Picota bis hinunter in die Flächen des Vale do Boi erstreckten, floß erstmals seit langer Zeit wieder Wasser. Die Bachbetten der Region waren seit nahezu einem Jahr ausgetrocknet gewesen und war noch Wasser an einigen Stellen, hier und da, roch dieses schal und hielt sich in giftig grünen Pfützen. Der Regen war vom Meer gekommen, aus Südwesten. Endlich. Der Wind hatte die prall gefüllten Wolken gegen die Berge gedrückt. Als sich genug Wolken gesammelt hatten, regnete es lang und kräftig. Dem Gott sei gedankt.
Was wohl in Lissabon passieren würde, wenn mitten auf der Avenida da Liberdade UFOs landen und Alliens Menschen fressen würden? Lenz hatte diesen irren Gedanken verdrängt und seinen Rucksack bereits am Abend vorher gepackt. Butterbrote, Früchte, Wasser, eine kleine Apotheke für alle Fälle. Frühmorgens war er in Caldas aufgebrochen. Er hatte eine Mission. Es war noch nicht ganz hell. Er hatte sich vorgenommen, den Weg hoch über Esgravatadouro nach Fornalha zu nehmen. Da war diese Geschichte von den Invasoren. Der wollte er nachgehen. Es dampfte über den Tälern, die man hier Barranco nannte und die Feuchtigkeit bildete erste Fetzen von Wolken. Darin ging es sich wie durch Nebel. Dann kam die Sonne, ganz plötzlich und schnell. Als sie aus dem Meer auftauchte, ging er gleichgültig weiter. Es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Er untersuchte die Vegetation. Der vielfältge Wald war zerstört. Eine einzige Sorte Baum war auf dem Vormarsch, die Vielfalt zu zerstören. Und alle sahen gleichgültig zu, als wenn sie die Gefahr nicht hatten kommen sehen.
Er sah Zé Eduardo, den Schäfer mit seinen Ziegen über dem Weg. Er vermißte Senhor Florival, den einsamen und letzten Förster, Vater des Zé Eduardo, der im vergangenen Winter gestorben war. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte. Es hatte hier vor Jahren wieder und wieder gebrannt. Jetzt hatte Wildwuchs die Regentschaft übernommen. Eukalyptus und Akazien rangen um die Vorherrschaft. Welche Baumsorte war stärker? Dabei ging es um etwas ganz anderes. Niemand schien die Gefahr zu wittern. Korkeichen lagen verkohlt am Wegesrand. Hier eine ausgebrannte Kiefer. Dort kam eine Ruine ohne Dach zum Vorschein. Alles so leer. Die Natur war aus dem Gleichgewicht. Durch die Fenster konnte er in den Himmel blicken. Nach zwei Stunden erreichte er Fornalha. Nun bog er ab und ging steil bergauf. Grüne Weiden und wieder Ruinen. Hier lebten keine Menschen mehr.
Anfangs drängte es ihm in der Brust, als er seinen festen Schritt auf dem Asphalt spürte und der Nebel die Formen bald verschlang, bald wieder freigab. Es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlorenen Träumen, aber er fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so nass, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen, er begriff nicht, dass er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinaufzuklettern, denn jetzt wurde es steil, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte, er müsse alles mit ein paar Schritten ausmessen können. Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk vom Gipfel in die Täler warf und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heranbrausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein Wanderstab die Erde berührte. War das alles wirklich?
Er stand, machte eine Pause, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat. Oder er stand still und legte das Haupt ins Moos und schloss die Augen halb. Dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Flut unter ihm zog. Aber es waren nur Augenblicke, und dann erhob er sich nüchtern, fest, ruhig als wäre ein Schattenspiel vor ihm vorübergezogen, er wusste von nichts mehr. So erreichte er Corte Grande. Hier besuchte er den Platz an dem der Baum gestanden hatte, ein großer und alter Baum, der elf Männer brauchte, ihn zu umarmen, und der Weg, der durch den kleinen Korkeichenwald führte, beruhigte ihn wieder, machte ihn sanft und ließ ihn wieder glauben, daß die Welt noch nicht verloren war. Er begann ein Lied zu summen und machte eine kurze Rast, aß ein Butterbrot und hörte das Zwitschern einer Nachtigall, die sich mit der Jahreszeit vertan hatte.
Als das Feuer kam, hatte man den Baum einfach vergessen. Die Bewohner hatten sich in Sicherheit gebracht. Die Feuerwehren waren an anderen Orten beschäftigt. Man ließ das Feuer wüten. Er hatte da gestanden und sie alle gesehen, die Römer, die Mauren, die Spanier und alle, die an ihm vorbeizogen oder hier wohnten. Ein Baum kann nicht weglaufen. Er hatte den Waldbrand von 2003 überlebt. Einige Spezialisten hatten ihn auf 2.000 Jahre geschätzt. Jetzt war er ganz abgefackelt und stand da wie zu seiner eigenen Beerdigung, schwarz. Man hatte ihn einfach vergessen. Diese Gedanken ließen ihn nicht mehr los.
Gegen Mittag erreichte Lenz die Höhe des Gebirges, von wo man auf einmal die ganze Welt von oben betrachten konnte. Felsen wollten erklettert werden und dann war es auf einmal soweit. Er stand auf dem Picota und sah das Meer im Süden und das Meer im Westen und das Land im Norden und Osten. Das war Europa. Hier endete die alte Welt. Dort drüben war Mama Afrika. Hier begann Europa.
Er suchte den Weg mit den Augen. In der Ebene nach Westen begann der Abstieg. Er setzte sich hier oben erst einmal nieder. Es war in der Zwischenzeit etwas ruhiger geworden in ihm; das Gewölk lag fest und unbeweglich am Himmel, so weit der Blick reichte, nichts als Himmel, von dem sich breite Flächen hinabzogen, und alles so still, blau und weiß, dämmernd. Es wurde ihm entsetzlich einsam, er war allein, ganz allein, er wollte mit sich sprechen, aber er konnte, er wagte kaum zu atmen, das Biegen seines Fußes tönte wie Donner unter ihm, er musste sich niedersetzen. Es erfasste ihn eine namenlose Angst in diesem vollen Nichts, er war im Leeren, er riss sich auf und flog den Abhang hinunter. Es war Nachmittag geworden, Himmel und Erde verschmolzen in eins. Es war, als ginge ihm etwas nach, als müsse ihn etwas Entsetzliches erreichen, etwas das Menschen nicht ertragen können, als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm. Es waren die Akazien. Der Geruch verfolgte ihn. Sie waren auf einmal überall.
Endlich hörte er reale Stimmen, er sah Lichter, es wurde ihm leichter, man sagte ihm, er hätte noch eine halbe Stunde bis Monchique hinunter. Er ging in das Dorf, die ersten Häuser, vereinzelt, boten ihm Orientierung, die Lichter schienen durch die Fenster, er sah hinein im Vorbeigehen, Kinder am Tisch, alte Weiber, Mädchen, alles ruhige, stille Gesichter, es war ihm als müsse das Licht von ihnen ausstrahlen, es ward ihm leicht, als er das Pé da Cruz erreichte und auf den Linienbus wartete, der ihn nach Caldas, in seine Herberge zurückbrachte. Sein erster Tag in der Natur neigte sich dem Ende zu. Es wurde bereits dunkel…
Lenz ist eine fragmentarische Erzählung des deutschen Schriftsteller Georg Büchner, deren Titel jedoch nicht vom Autor stammt. Sie erschien posthum erstmals 1839.