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Nº 9 – Von meinem Fenster aus sehe ich das Meer am Horizont

Montag, der 13. Abril 2020

von Alexandre Moura

„Ich bin Algarvio und am Ende meiner Straße liegt das Meer“, schrieb António Pereira, der Dichter aus dem Algarve-Städtchen Armação de Pera. Dieses Gedicht bringt den Frieden und die bezaubernde Schönheit der Algarve genauso zum Ausdruck wie auch die Abenteuer, die jenseits des Meeres warten. In der Stadt Faro, in der ich lebe, gewährt mein Fenster einen Ausblick auf die Ria Formosa Lagune und das unendliche Meer dahinter. In den letzten Wochen der Isolation hatte ich Gelegenheit, die Landschaft von der Küste bis zu den Bergen genauer zu erkunden, wobei mir Fragen durch den Kopf gingen, über Gegenwart und Zukunft sowie auch darüber, ob die Welt wie wir sie kennen oder kannten, sich ändern wird.

Unter den möglichen Szenarien für Veränderungen gibt es eines, das mir schon erreicht zu sein scheint. Unsere gemeinsamen Wertvorstellungen ändern sich. Vielleicht hat unser globales Wirtschaftssystem dazu geführt, dass wir in einer Gesellschaft leben, deren Fokus im Wesentlichen auf Zukunftsprojektionen liegt und wir uns damit beschäftigen, was wir in Zukunft tun, haben, bauen, wohin wir reisen werden, wonach wir streben sollen … Natürlich ist es notwendig, an die Zukunft zu denken und sich darauf vorzubereiten, aber ein Großteil unserer Gesellschaft lebt fast nur noch in diesen Zukunftsvisionen und vergisst so oft das Hier und Jetzt, den gegenwärtigen Moment, das unmittelbare Geschehen. Es scheint mir, dass hier die erste Veränderung infolge dieser weltweiten Pandemie stattgefunden hat. Wir fokussieren unsere Perspektiven – und damit auch unseren konkreten Blickwinkel auf das Leben, die Gesellschaft und die ganze Welt – auf das zeitlich Naheliegende. Heute, morgen, vielleicht eine Woche, sind überschaubare Zeiträume, denn in der gegenwärtigen Situation können wir uns nur schwer vorstellen, was in ein, zwei oder mehreren Monaten sein wird.

Wir sind gezwungen innezuhalten. Wie wird die Wirtschaft nach Covid-19 aussehen? Wie wird es um unseren Planeten in Bezug auf Nachhaltigkeit stehen und wie sieht es dann mit seiner Regenerationsfähigkeit aus? Wir wissen, dass die Auswirkungen auf die Natur – wenn auch nur für kurze Zeit – positiv sind. Informationen darüber kommen aus dem Weltraum. Die im März vom Satelliten Sentinela-5P (CopernicusProgramm der Europäischen Kommission und der Weltraumorganisation der Europäischen Union – ESA) gesammelten Bilder und Daten haben uns gezeigt, dass die Stickstoffdioxidemissionen in China um 20 – 30 Prozent abgenommen haben.

In Italiens Touristenmagnet Venedig – jetzt still und menschenleer – sind die Kanäle seit Jahrzehnten zum ersten Mal so sauber, dass sich Fische am Grund des kristallklaren Wassers beobachten lassen. Auch Schwäne, Reiher und andere Arten tummeln sich dort. In Portugal schlenderten Anfang April zwei Rehe durch ein Wohngebiet von Odivelas im Großraum Lissabon.

In den letzten Jahren konnte ich von meinem Fenster aus zusehen, wie Wohnungen und ganze Gebäude – vielleicht zu viele – in Touristenunterkünfte umgewandelt wurden. Der Mietpreis für Wohnraum ist exponentiell gestiegen, einige Mieter wurden aus ihren Häusern vertrieben und – wie Bauern auf dem Schachbrett – der Gewinnmaximierung geopfert. Vielleicht ist es nötig, dieses Geschäftsmodell generell zu überdenken oder zumindest dafür zu sorgen, dass Familien wieder Wohnraum zu fairen Preisen mieten können. In einigen Ländern wird auf Grund der prekären Situation wieder über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) oder ähnliche Maßnahmen nachgedacht. Die Zeiten sind reif für Veränderungen.

Und was bedeutet das für den Tourismus, der für die Algarve doch ist wie eine Gans, die goldene Eier legt? Möglicherweise wird sich auch die Mobilität auf internationaler Ebene ändern. Es sind schwierige Zeiten, aber es gilt, an die Zukunft zu denken und auch der Markt bereitet sich darauf vor, den Kurs abzustecken. Zwar ist noch immer kein Ende des Kampfes gegen die Covid-19-Pandemie in Sicht, doch veröffentlichte das nordamerikanische Magazin Forbes Anfang dieses Monats schon einen Artikel, in dem es die Algarve zum besten Ziel der Welt für Ausländer erkor, die sich nach überwundener Coronavirus Krise in den Ruhestand verabschieden wollen. Auch sei die Algarve einer der Orte der Welt mit der höchsten Lebensqualität, noch vor Mazatlan in Mexiko und Cayo in Belize.

Von meinem Fenster aus sehe ich normalerweise unzählige Flugzeuge, die im Anflug kurz aufeinander folgend die Landebahn des internationalen Flughafens Faro ansteuern. In den letzten Wochen verbringe ich einen großen Teil des Tages und auch der Nacht damit, zum Horizont zu schauen, oft draußen auf dem Balkon. Ich kann schon nicht mehr sagen, seit wie vielen Tagen ich kein Flugzeug mehr über die Stadt fliegen sehe. Ich glaube daran, dass gegenwärtig – also heute und morgen – alles gut wird. Weiter kann ich von meinem Fenster aus nicht sehen, nur bis zu den Bergen und auf das Meer am Horizont.

Alexandre Moura (44)

arbeitet als freiberuflicher Journalist, ist Berater und Ausbilder im Bereich der visuellen Kommunikation, für Fernsehen und Hörfunk. Er hat einen Bachelor in Journalismus und lebt in Faro.

Fotos:Alexandre Moura

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