Samstag, der 27. Mai 2023.
Teil 2:
Am übernächsten Tag setzte Lenz seine Wanderung fort. Mit dem Linienbus fuhr er bis Monchique, um vom Dorf hinauf zum Convent zu steigen. Auf halben Wege traf er einen Gitarrenspieler, der am Wegesrand gegen Geld spielte, ihn anhielt und anbettelte. Langsamen Schrittes, sicher und stark setzte er einen Schritt vor den anderen und tauchte hinein in den spärlichen Forst, ließ den Musikanten hinter sich und auf einmal fühlte er sich wieder etwas sicherer. Ein paar riesige Bäume, feucht und moosig riechend, eine Aussicht nach Südwesten zum Kap hin, auf die Bergkette, die sich grad hinauf und hinunter nach Westen und Norden zog, und deren Gipfel gewaltig, ernsthaft oder schweigend still, wie ein dämmernder Traum standen. Gewaltige Luftmassen, die manchmal aus den Tälern, wie ein goldner Strom schwollen, dann wieder Gewölk, das am höchsten Gipfel des Fóia lag und dann langsam den Forst herab in das Tal klomm, oder in den Sonnenblitzen sich wie ein fliegendes silbernes Gespinst herabsenkte und hob; kein Lärm, keine Bewegung, kein Vogel, nichts als das bald nahe, bald ferne Wehen des Windes über den letzten Eukalyptus Plantagen vor der Bergspitze. Dort hinauf zum Gipfel wollte er heute gehen und weiter nach Westen noch.
Zuerst jedoch ging er hinein in die Ruine des alten Convents und traf auf einen Mann, der ihm am Eingang Eier verkaufen wollte. Lenz scheuchte ihn fort. Was sollte er mit rohen Eiern auf der Wanderung? Er wollte die große Magnolie besuchen, den Baum sehen, der seit vielen hundert Jahren mitten im Kreuzgang stand und alle Waldbrände überstanden hatte. Er erinnerte sich an die Verkostung des Olivenöls am Tag zuvor. Noch schmerzten seine Glieder von der Besteigung des Picota. Das Olivenöl aber war ein reines Labsal. Fast alle Mühlen von Monchique waren mit der Zeit aufgegeben worden. In der letzten Mühle des Ortes jedoch stemmte sich der alte Oliveira-Santos gegen den Zeitgeist. Er war damit beschäftigt gewesen, den Lieferanten der Oliven die Ernte zu quittieren, die er dann zwischen den beiden großen Steinen zu einem Brei zermalmte, aus dem schon das erste wässrige Öl in eine stählerne Wanne tropfte. In der Presse lagen die runden Sisalteppiche, die den Brei aufnahmen und zwischen den gepressten Teppichen wurde ganz langsam so etwas wie Ölwasser gewonnen. Eine alte Zentrifuge spaltete das Wasser vom Öl und neue Oliven wurden gerade nachgeladen und wiederum zu Brei zermalmt. So ging es weiter und weiter, über Wochen. Dann kamen die Lieferanten zurück und holten sich den hälftigen Anteil des so gewonnenen nativen Olivenöls. Der November hier oben war die Zeit, in der Olivenöl gepreßt und Medronho eingemaischt wurde. Die Schnapsbrennerei war ein einträgliches Gewerbe. Das Olivenöl war köstlich. Die Zeit blieb stehen.
Als er endlich aus dem alten Gemäuer wieder hinaus trat, lag unten im Dorf heller Sonnenschein, aber weiterhin die Landschaft halb im Nebel. Er kam bald vom Wege ab, und eine sanfte Höhe hinauf, keine Spur von Fußtritten mehr, in einem feuchten Kiefernwald, die Sonne schnitt Kristalle, hier und da die Spur von Wild in der Erde, die sich ins Gebirge hinzog. Wildschweine hatten eine Terrasse zerstört. Keine Regung in der Luft, nur ein leises Wehen, das Rauschen eines Bonelliadlers, der über ihm kreiste und verzückte helle, leise Schreie ausstieß, um auf sich aufmerksam zu machen. Dann wieder Stille und die Bäume weithin mit schwankenden grünen Nadeln in der tiefblauen Luft. Es wurde ihm heimlich nach und nach, die einförmigen gewaltigen Terrassen und Linien, vor denen es ihm manchmal war, als ob sie ihn mit gewaltigen Tönen anredeten, waren verhüllt, ein heimliches Weihnachtsgefühl beschlich ihn, er meinte manchmal seine Mutter müsse hinter einem Baum hervortreten, groß und schlank und ihm sagen, sie hätte ihm dies alles beschert; wie er das Portal hinunterging, sah er, dass um seinen Schatten sich ein Regenbogen von Strahlen legte, es war ihm, als hätte ihn was an der Stirn berührt, das Wesen sprach ihn wieder an. Er kam hinunter, ging um den Convent herum, hinauf und überquerte eine Straße. Glaubte er immer noch an Gott?
Dann verschluckte ihn der Wald wieder. Stetig schritt er bergauf, machte eine Kehrtwende und ging weiter, machte eine zweite Wende und war auf direktem Weg zum Gipfel. Dann endete der Wald und es war nur noch Dickicht, hüfthoch und dornig. Hier und da ein Weißdorn, am Rande wuchs der Stechginster, noch eine einsame Korkeiche und viel ausgetretener Weg, ausgewaschen, mit großen Kieselsteinen und Rillen, in denen er kaum gehen konnte. Der Weg war beschwerlich und kaum instand gehalten. Aber er kannte sich aus. Er ging ohne die Karte zu benutzen und ohne auf die Markierungen zu achten, die den Weg säumten. Bald hörte er das erste Schnattern von Touristen, von denen er sich absichtlich fern hielt. Ihm war nicht nach belanglosem Gespräch. Im Gegenteil, er studierte die Natur. Er zählte auf zehn Metern die Bäume und ihre Vielfalt. Dabei enteckte er wieder die Invasoren, die Akazien und Mimosen zu Tausenden, bei einigen letzten Überresten von heimischen Baumarten. Die Baumgrenze war erreicht. Von nun an zählte er die Steine und die Kühe, die Schafe und die Ziegen, die hier frei herumliefen und Kultstatus hatten, denn sie waren überall verstreut bis hin zum Gipfel. Eine Kuh lag im Sandkasten des Spielplatzes von Fóia, eine andere schrubbte sich das Fell an einer Kinderrutsche, während eine dritte sich gerade erleichterte. Keine Spur von einem Schäfer, kein Hirte kümmerte sich um die Tiere. Lenz ging um sie herum und wurde neugierig begutachtet. Guten Tag. Nun hatte er die Hälfte seines Tagewerkes vollbracht und konnte sich auf den restlichen Weg konzentrieren, der an fünf Windmühlen westwärts vorbeiführte. Die Aussicht war atemberaubend. Der Atlantik im Süden und das Meer im Westen ließen erahnen, warum man sich vor fünf Jahrhunderten aufgemacht hatte, zu erfahren was einen hinter dem Horizont erwartete. Getrieben von Neu-Gier.
Das Drängen in ihm, die Musik, der Schmerz, erschütterten ihn. Er fühlte tiefen, unnennbaren Schmerz. Jetzt, ein anderes Sein, göttliche, zuckende Lippen bückten sich über ihn und sogen sich an seine Lippen; er ging weiter nach Westen, übersprang einen Gebirgsbach und war allein. Allein! Da rauschte die Quelle, Ströme brachen aus seinen Augen, er krümmte sich in sich, es zuckten seine Glieder, es war ihm als müsse er sich auflösen, er konnte kein Ende finden; endlich dämmerte es in ihm, er empfand ein leises tiefes Mitleid in sich selbst, er weinte über sich, sein Haupt sank auf die Brust, er setzte sich unter eine Kastanie und schlief ein. Der Vollmond stand nachmittags bereits am Himmel, die Locken fielen ihm über die Schläfe und das Gesicht, die Tränen hingen ihm an den Wimpern und trockneten auf den Wangen, so saß er nun da allein, und alles war ruhig und still und kalt, und der Mond schien den ganzen Nachmittag schon und stand über den Bergen zum Greifen nahe.
Ein Wegweiser gab ihm die Gewissheit, daß er noch 3,6 Kilometer zu gehen hatte. An einer Koppel vorbei, dort graste ein weißes Pferd, noch einmal hinauf bis zum Miradouro und wieder hinunter nach Marmelete. Er suchte die Gemeindeverwaltung und die Ausstellung, in der er sich mit dem Brennen von Medronho beschäftigen wollte. So endete sein zweiter Wandertag durchs Gebirge von Monchique…