Es ist ein Donnerstag im Januar, als ich zum ersten Mal einen Bürgermeister in einem Dorf im Alentejo weinen sehe. Der Gemeindevorsteher ist ein gestandener Mann, ein Handwerker und seit vielen Jahren im Amt. Doch jetzt weiß er nicht weiter. Seit vergangenem Frühsommer sind die Bohrlöcher im Ort leer. Wie andere umliegende Gemeinden erhält sein Dorf das Trinkwasser mit Lastwägen vom Sado-Staudamm Monte da Rocha. Doch in diesem herrscht gähnende Leere, er war sogar im letzten Winter nur zu 23% gefüllt. Damit sinkt auch die Qualität. Schon seit Monaten ist das Wasser in den Haushalten seines Dorfes braun und trübe. Wenn es nicht doch noch signifikant regnet, dann weiß niemand, wie die Bewohner das Jahr überstehen sollen. Und der Reisanbau, im vergangenen Jahr bereits halbiert, muss dann wohl ganz eingestellt werden. “Und noch immer glauben einige Bewohner des Dorfes, sie könnten ganz normal weiterleben, ihre Autos waschen und Rasen sprengen”, klagt der Bürgermeister. Und ich denke: In was für einer Zeit leben wir, wo nur noch Tränen den Fluss speisen?”
Der Sado. Schon sein Name klingt nach Saudade, nach Wehmut und Vergangenem. Einst war er ein mächtiger Strom mit Schiffen, die Handel, Reichtum und Informationen zwischen dem Landesinneren und der großen weiten Welt austauschten. Davon zeugen noch alte Prachtbauten in Setúbal und Alcacer do Sal. Man nannte ihn auch den Nil Portugals, aufgrund seines weitreichenden Einzugsgebietes und seiner vielen Zuflüsse. Zudem ist es der einzige Fluss des Alentejo, der von Süden nach Norden fließt. Und immer noch sind die letzten 20 km des Sado ein Naturschauspiel: Meer- und Flusswasser mischen sich zu einem majestätischen Lauf. Schilf und Sumpf prägen das Naturreservat Estuário do Sado, große Vogelschwärme und sogar Delphine begleiten ihn, bevor er in einer mächtigen Bucht bei Setubal ins Meer mündet, dem großartigen Naturpark Serra da Arrábida.
Doch zum Nil gibt es eine weitere Parallele: Ebenso wie der ägyptische Fluss sinkt der Wasserspiegel des Sado dramatisch. Der heute trockenste Fluss Portugals ist im Oberlauf nur noch ein veralgtes Rinnsal, das die anliegenden Gärten und Felder nicht mehr speist, und einige Zuflüsse verschwinden während des Sommers ganz. Viele Dörfer und Ländereien entvölkern sich; ehemals großzügige Ländereien sind verfallen. Wo einst Vielfalt gedieh, stehen heute Ruinen, liegen Brachland und Monokulturen von Pinien und Eukalyptus, sinkende Grundwasserspiegel, ausgetrocknete Brunnen (poços) und Waldbrände im Sommer.
Wie konnte das geschehen? Eine Antwort darauf gibt die Landkarte: Sämtliche neun Nebenflüsse des Sado haben Talsperren, insgesamt gibt es im Einzugsgebiet 13 Staudämme. Einer davon ist der Campilhas-Staudamm am oberen Sado. Neben einem kleinen Kraftwerk wird sein Wasser vor allem für die Intensivlandwirtschaft genutzt, wie der Verantwortliche der Betreibergenossenschaft “Associação de Regantes e Beneficiários de Campilhas e Alto Sado” bei meinem Besuch erklärt. Das Wasser des oberen Sado ermöglicht den Anbau von Tomaten, Mais, Bewässerungsoliven, Reis – allesamt wasserintensive Kulturen. Die Tomaten sind für den Export bestimmt und gehen sogar bis nach China. Genau das ist nach Ansicht des Wasserbau-Ingenieurs Bernd Müller aus dem Landkreis Odemira der große Systemfehler: “Die Früchte, die da exportiert werden, sind Sado-Wasser in anderer Form, das später unserem Flusssystem fehlt. Würde kein Wasser aus dem Einzugsgebiet abgeführt und könnte der Regen dort in den Boden sickern, wo er fällt, dann würde das Grundwasser steigen – und hätten wir auch in Jahren mit wenig Regen genug Wasser in der Region, um Menschen und Tiere zu versorgen und alles zu produzieren, was sie brauchen.”
Das konventionelle Wassermanagement hat weltweit immer mehr Kritiker. Für sie gehört die Konzentration von Wasser in Staudämmen und der Transport in andere Wassereinzugsgebiete zu einer längst überkommenen Denk- und Planungsweise. Doch genau diese Denkweise prägt immer noch die Versorgung der Dörfer des südlichen Portugal. Im September 2009 übertrugen die Landkreise des Alentejo die Verantwortung für die Wasserversorgung der Gemeinden an die semi-private Gesellschaft Águas Públicas do Alentejo (AgdA). AgdA´s Strategie ist es, die Trinkwasserversorgung der Dörfer ganz auf Staudämme umzustellen. Seitdem wurde nicht mehr in den Erhalt und die Qualitätsprüfung der lokalen Bohrlöcher (furros) investiert. Sämtliche Brunnen (fontanários) in Gemeinden erhielten die Aufschrift: Wasserqualität nicht garantiert (“Qualidade de água nao testada”). So sollen sogar Gemeinden wie Colos, die ein reiches Grundwasservorkommen hoher Qualität haben und sich auch im Hochsommer noch bestens versorgen können, zukünftig für viel Geld vom Staudamm Monte da Rocha versorgt werden. Denn ist der Versorgungskanal einmal fertiggestellt, wird er sich um so eher rentieren, je mehr Gemeinden ihn nutzen und dafür bezahlen. Die Bürger wurden dazu nicht befragt und vor vollendete Tatsachen gestellt.
Das ist es, was die Vertreter des neuen Wasserparadigmas stört. “Statt immer größere Zentralisierung wäre der umgekehrte Weg besser: die Wasserversorgung in die Verantwortung der Gemeinden zu geben und in natürliches und dezentrales Wassermanagement zu investieren”, sagt Müller gegenüber ECO123. Gemeinden wären seiner Meinung nach gut daran beraten, das Regenwasser dezentral durch Retentionsteiche und -gräben in den Erdboden zu leiten, großflächig in Mischkulturen aufzuforsten und den Anbau solcher Ackerfrüchte zu fördern, die an die Region und ihr Wasservorkommen angepasst sind. Das wären dann eher Sonnenblumen als Mais, eher traditioneller Olivenanbau statt bewässerter.
Müller: “Erfahrungen in aller Welt haben gezeigt, dass mit diesen einfachen und kostengünstigen Maßnahmen der Grundwasserspiegel wieder steigt und die Bohrlöcher sind nicht mehr im Frühsommer ausgepumpt.”Denn eines müsse man feststellen: “Wir leben nicht in einer trockenen Region. Der jährliche Regendurchschnitt selbst im Alentejo liegt nicht weit unter dem von Berlin. Es gibt genügend Regen, aber der fällt hauptsächlich in einer einzigen Jahreszeit, und wir müssen lernen, intelligent damit umzugehen.”
Könnte die gegenwärtige Dürre eine Chance für ein Umdenken bieten? Im Moment sieht es noch nicht danach aus. Angesichts der niedrigen Pegelstände der Stauseen hat die AgdA zwar im gesamten Einzugsgebiet eine Umfrage unter Landbesitzern angeregt, um die Bohrlöcher zu erfassen und die Gemeinden doch dezentral zu versorgen. Doch das ist nur eine Übergangslösung. Die längerfristige Planung für die Wasserversorgung heißt: noch mehr Zentralisierung. Zwar gilt es weltweit als ökologische Sünde, Wasser von einem Flusssystem ins nächste zu transportieren. Aber im Notfall werden solche Gebote übertreten. Das heißt konkret: Wenn die Sado-Staudämme Monte da Rocha und Roxo leer sind, wird Wasser aus dem großen Alqueva-Staudamm nachgepumpt. Die Pläne dazu liegen seit Jahrzehnten in den Schubläden, und die Versorgungskanäle wurden in den letzten zehn Jahren Zug um Zug fertiggestellt. Fast könnte man meinen, man hat auf diesen Notruf des Sado-Beckens gewartet.
Doch das Alqueva-Wasser ist nicht nur teurer als das Sado-Wasser, es hat auch schlechtere Qualität. Der aus Spanien kommende Guadiana, der den größten künstlichen See Europas speist, kommt bereits aus einer Region mit intensiver Agroindustrie mit entsprechendem chemischen Einsatz und ist stark kontaminiert. Vor 17 Jahren gingen Tausende Umweltschützer gegen den Bau des Alqueva-Staudamms auf die Straße. Doch die Lobby erwies sich als stärker und das “System Alqueva” soll anscheinend im vollen Umfang in Kraft treten und am Ende den ganzen Alentejo prägen. Im Einzugsgebiet des Stausees selbst wurde die bäuerliche Landwirtschaft fast ganz durch hochspezialisierte Agrarkonzerne verdrängt, die mit Alqueva-Wasser, Agrarchemie und Billiglohnkräften aus Fernost kurzfristigen Profit abschöpfen – mit all dem sozialen und ökologischen Elend, das im Distrikt bereits zu spüren ist.
Soll dieses System nun auch im gesamten Sado-Einzugsgebiet realisiert werden? Selbst wenn das von Anfang an der Plan gewesen sein mag: es wird nicht gelingen. Auch die spanische Agrarindustrie verlangt mehr Wasser und so drosselte Spanien bereits im letzten Jahr das Wasser seiner Flüsse, die nach Portugal fließen. An diesem Beispiel sehen wir: Eine zentrale Lösung kann niemals nachhaltig sein. Nur dezentrale Lösungen werden auch morgen noch ein Leben und eine Produktion ermöglichen – im Sado-Gebiet und an allen Flüssen der Erde.
Fröhlicher Fluss
Im Herbst beschloss eine Gruppe von 20 Menschen, das Flusssystem, den Sado kennenzulernen, und ging auf eine zehntägige Wanderschaft von Tamera bis zur Sado-Mündung. Sie wanderten entlang an Kanälen, Stauseen, ausgetrockneten Bachbetten und Flussufern, wateten durch Schlamm, Reisfelder und kniehohes Wasser. Sie schliefen in Turnhallen, Rathäusern, Gemeindezentrum, sprachen mit Bürgermeistern, Bauern, Hausfrauen und Managern. Sie wurden Zeugen von Zerstörung – aber immer wieder auch von einer Natur, die sich trotz allem nicht unterkriegen lässt. Sie wurden auch Zeugen von Menschen, die sich nicht auf die Globalisierung einlassen, sondern auf ihre ganz eigene Art Widerstand leisten. So gab es in allen Dörfern alte Leute, die sich ganz einfach weigern, das Wasser aus dem Wasserhahn und damit aus den Stauseen zu trinken. Stattdessen pflegen sie die alten Brunnen (fontanários), ignorieren das Schild “nicht kontrollierte Wasserqualität” und holen sich mit Flaschen und Behältern das Brunnenwasser, das ihnen einfach besser schmeckt. Auch trafen die Flußwanderer an vielen Orten junge und teilweise gut ausgebildete Menschen, die aus den Städten oder aus anderen Ländern kommen und stillgelegte Höfe wiederbelebten, die Bäume pflanzen, Gärten in Permakultur anlegen und – manchmal inmitten von Intensivlandwirtschaft auf Alternativen setzen – zum Beispiel auf biologischen Reisanbau. Auf diese Weise entstehen Treffpunkte, an denen Menschen zusammenkommen und über ihren Tellerrand schauen – auf Perspektiven und Alternativen in der Region.
Der Landschaftsplaner Duarte Sobral aus Odemira erklärte am Beispiel des Sado das ideale Zusammenspiel der verschiedenen ökologischen Abschnitte eines Flusslaufes: im oberen Bereich gedeihen Mischwälder, hier liegt der Quellbereich, wo möglichst wenig in die Natur eingegriffen wird. Er wird gefolgt von extensiver Produktion mit Fruchtbäumen und Waldweiden – hier ist der ideale Bereich für den so genannten Montado. Im mittleren Flusslauf mit seinen fruchtbaren Ebenen wird die landwirtschaftliche Produktion intensiver. Das Schwemmland erlaubt einen ertragreichen Anbau und die Lebensmittelversorgung der weiteren Region, aber immer noch in Mischkultur und mit vielen Bäumen: Tiefwurzelnde Bäume gerade im mittleren Flusslauf halten das Grundwasser und machen es für das ganze Ökosystem verfügbar. Und in den Feuchtgebieten im Mündungsbereich gibt es Salzgewinnung, Fischerei und Sammeln von bestimmten Pflanzen und Muscheln. So wirken alle Zonen eines Flusslaufes optimal zusammen. Es entsteht ein erfolgreiches Miteinander aus Naturschutz, Pflege, Kultur und Produktion.
Könnten Menschen nicht durch Freundschaft, Kontakt und Zusammenarbeit ein solches Fluss-Bündnis schließen und sich gegenseitig in Anbau, Produktion und Handel entsprechend ergänzen? Wie gut dies dem Fluss tun würde – und all seinen tierischen und menschlichen Anwohnern! Ein wenig muss es früher so gewesen sein. In den damals reichen Städten Setubal und Alcacer do Sal wurden die Produkte aus Binnenland und Meer umgeschlagen. Der Sado formte eine lebendige Ader, die Meer und Land verband – mit Wasser, Gütern und Information.
Es ist ein kühler Tag, als die 20 Wanderer nach vielen Kilometern in Setúbal die Fähre besteigen, die sie an den letzten Ort ihrer Wanderung bringt, zum Strand von Tróia, zwischen Fluss und Meer. Gerade als sie am Ufer sitzend die letzten Worte wechseln, kommen die Delphine! Dutzende große Tümmler schwimmen sehr nahe an sie heran und dann hinaus ins offene Meer. Viele von ihnen springen noch einmal hoch aus dem Wasser wie zum Gruß. Die Weitwanderer nehmen es als einen Abschied und als eine Botschaft: Wie weit auch immer die Zerstörung der Erde schon fortgeschritten ist, uns gibt es immer noch! Wenn Menschen miteinder kooperieren, Landbewohner und Wasserbewohner, ist die Heilung eines Ökosystems noch immer möglich.