Das Gedächtnis des Menschen ist kurz. Langsame Veränderungen nimmt er kaum mehr wahr, auch weil er sich immer weniger nur an einem Ort aufhält, den er regelmäßig in Ruhe beobachten kann. Den Wert der Natur erkennen und würdigen, geht mit diesem Defizit an menschlicher Wahrnehmung unter. Mensch lebt immer mehr im urbanen Raum, rast- und ruhelos, in einem Raum und in einer Zeit, der die Natur verdrängt. Die trügerische Sicherheit der Stadt benutzt Natur seitdem als Deko. Hier ein Baum, dort eine Allee, der Central Park in New York und der Botanische Garten in Lissabon sind solche scheinbaren Ruhe- und Rückzugorte. Was wir gegenwärtig in Venedig wahrnehmen ist ein Zustand, der schon seit einer Generation, also seit mehr als 25 Jahren stattfindet. Der Meeresspiegel steigt stetig: erst unmerklich nur, ein paar Zentimeter im Jahr 2002, dann abrupt und bei einer Springflut zu Vollmond und am 1. Dezember 2008, dann am 25. Dezember 2009, immer im Winter, dann wieder am 11. November 2012. Die Millionen Besucher Venedigs stört das kaum. Sie besuchen die Stadt wie einen Wasserpark um die Ecke. Und bei Hochwasser kommen sie in Gummistiefeln. Die Venezianer aber fürchten sich, wenn sie am 29. Oktober 2018 und am 12. November 2019 Springfluten erleben, die ihre Stadt im Salzwasser des Mittelmeeres langsam untergehen lässt. Denn während der Meeresspiegel langsam oder auch abrupt steigt, also chaotische Verhaltenszüge annimmt, versinkt die Lagunenstadt langsam immer mehr im Meer, auch, weil die Hafenverwaltung die Fahrrinne für große Kreuzschiffe immer tiefer, bis auf 18 Meter ausbaggern lässt. Und mit jedem Meter Vertiefung der Fahrrinne versinkt die Stadt wenige Zentimeter weiter ins Meer. Wie lange wird das wohl noch gut gehen? Wann werde ich es erleben, dass Venedig solch einer Stadt wie Pompei in den Untergang folgt?
Während ich über Venedig nachdenke, gehe ich wandern. Der Weg führt von der Lagune Salgados, vom Praia Grande, dem letzten Vogelschutzgebiet der Algarve mit freiem Meerblick über Praia do Galé nach Praia do Castelo, ostwärts in Richtung Albufeira. Das Colegio Internacional de Vilamoura hat vor kurzem mit diesem neuen ECO-TRAIL einen Wettbewerb unter Portugals Schulen gewonnen. Den sieben Kilometer kurzen Weg wollten wir – vor dem Hintergrund, dass auch SALGADOS früher oder später versinken wird – einfach noch mal vorher austesten. Denn die Millenium bcp, die Bankengruppe beabsichtigt, genau hier ein sogenanntes ECO-Ressort zu bauen, das bereits auf dem Papier fertig gezeichnet ist und das vom amerikanischen Immobilienmulti CBRE weltweit vermarktet wird.
Dabei steht noch nicht einmal der Grundstein. Die Baulizenz wurde bereits am 1. Juli 2016 vom Rathaus in Silves ausgestellt. Was oder wer also hält sie auf, die Natur in ein Touristenressort zu transformieren? Ist es die Vielfalt der Vögel? Sind es die Kormorane, Flamingos, Wasserhühner oder etwa die Reiher? 200 Millionen Euro stehen hier auf dem Spiel und sollen an dieser Stelle in den Sand gesetzt werden. Wir sind eine Gruppe von mehr als 30 Personen, die meisten Kinder der Schule mit ihrem Lehrer Luca, der aus Manteigas, aus der Serra de Estrela stammt.
Als wir ECO123 Anfang 2013 gründeten, rümpften die Leute beim Wort ECO noch die Nase. Wir konnten nicht ahnen, dass das Wort ECO einmal so in Mode kommen könnte. Für uns steht ECO als Abkürzung für Economy based on Ecology… Aber wenn jetzt mehrere Hotels und mehr als 300 Häuser und Apartments als ECO-Ressort verkauft werden und es dazu schon einen ECO-Trail gibt, amüsiert uns das schon ein bisschen. Die kids also schauen sich die verschiedenen Vögel von einer Bühne aus an. Auch Fotografen aus aller Welt zieht es nach Salgados. Es ist ein Mittwoch, der ECO-Tag im Colégio Internacional da Vilamoura. Mit dem neuen Kurs der RTA, der jetzt auch auf ECO-Tourismus abzielt, lässt sich mit diesen drei Buchstaben Geld verdienen. Und nur darum geht es, ums Geld verdienen. Was aber wäre, wenn man von Vila Real de Santo António über Salgados bis ans Südwestkap schon vor vielen Jahren einen Fußweg angelegt hätte, statt die ganze Küste zu urbanisieren? Einfach so zum Spaß oder auch einfach nur deswegen, weil es Menschen gibt, die gern zu Fuß gehen, sich bewegen und sich an der Natur und der schönsten Küste Europas erfreuen können? Einen Fußweg für uns selbst schaffen, den dann auch Reisende für sich entdecken könnten, wenn wir also mal nur etwas für uns selbst machen würden, statt immer nur auf die Einnahmen aus dem Tourismus zu schielen?
Salgados liegt drei Meter über dem Meeresspiegel. Quarteira und Vilamoura auch, der Hafen von Albufeira und die Tiefgaragen von Portimão und Lagos liegen sogar drei Meter unter dem Meeresspiegel… Was ich damit sagen möchte? Wir sollten vielleicht die Landschaften etwas genauer unter Beobachtung stellen, bevor wir anfangen irgendetwas zu bauen, oder besser, bevor wir uns in ein zukünftiges Salgado einkaufen. Denn wer will schon heute in eine Immobilie an der Lagune investieren, um morgen mit einem Boot vom Balkon im ersten Stock zum Festland zurückrudern zu müssen, weil man sonst nasse Hosen bekäme? Da hätte man ja eine schlechte finanzielle Entscheidung getroffen. An den Küsten steigt der Meeresspiegel, in den Bergen brennt es. Das nenne ich ausgleichende Gerechtigkeit – denn der menschgemachte Klimawandel wird früher oder später jeden von uns mitnehmen auf eine Reise, die nicht von der RTA gesponsert oder von TUI verkauft wird.
Kein Kreuzfahrtschiff und auch kein sogenannter Naturtourismus, der schon beim Flug in den Urlaub und zurück zwischen einer Tonne und zwei Tonnen Kohlendioxyd verursacht, können darüber hinwegtäuschen, dass Tourismus ein Fass ohne Boden ist. Warum versucht der Mensch sein Glück im Geld zu finden? Warum muss er immer auf Achse sein? Hat er kein Zuhause, in dem er sich wohlfühlt? Ein Megaressort bauen ist so sinnlos, also ohne Sinn, wie mit der Rakete zum Mars zu fliegen, weil man sich davon erhofft, woanders einen Planeten zu finden, der unserer Erde und den Lebensbedingungen ähnelt. Wir könnten uns viel Energie sparen, kommt mir der Gedanke, während ich die Schönheit der Natur mit ihren goldenen Felsen in mir empfinde, wenn wir es uns im Zuhause gut einrichten würden, wenn eine Reise dann irgendwann mal etwas sehr Einzigartiges werden könnte, etwas Seltenes, etwas Exklusives, etwas so Schönes, wovon man den Rest seines Lebens zehren und wovon man den Kindern oder Enkeln erzählen kann. Denn Geschichten beinhalten die Träume, die uns der Tourismus als Seifenblase verkauft und nach sieben oder 14 Tagen werden wir zurückgeflogen, um den Wecker zu stellen, der uns wie Roboter jeden Morgen weckt und wir funktionieren, weil alle anderen das auch so machen. Es ist das Gedächtnis, das uns diesen Streich spielt.