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TAG 4
Von Messines nach Alte.

TAG 4
Von Messines nach Alte.

Mein Frühstück bestelle ich nebenan. Es kostet 2 Euro und vierzig Cents und es ist acht Uhr, als ich den Schlüssel an der Rezeption abgebe und rübergehe zu Senhor Jorge. Heißen Milchkaffee und bitte ein Käsebrötchen. Bom dia. Nach zwei Minuten steht alles auf dem Tresen und ich nehme mein Frühstück mit auf die Terasse hinaus. Messines ist bereits erwacht und ich studiere meinen Weg auf der Landkarte. Ich möchte ins Vale Vinagre und beginne alsbald meinen kleinen Aufstieg. Zuerst einmal hinaus und unter der Autobahn durch, die die Algarve mit dem Zentrum des Landes verbindet. Überall gibt es Wege und Wegekreuzungen. Rechts ab und dann wieder links und nach ein paar hundert Metern steht es auf einem Schild geschrieben: das Vale Vinagre. Die Teerstraße wird zu einem Schotterweg und ich gelange nach einer Stunde Laufen aus der Stadt heraus zu einem Grundstück, das holländischen Bürgern gehören muß. Da steht eine Bank und ein Schild und ein Mülleimer unter einem Johannisbrotbaum und ein Büchlein mit Stift und der Bitte, eine Nachricht zu hinterlassen. Zwei Holzpantinen hängen an einem Nagelbrett und so setze ich mich und schaue auf einen Garten mit traditionellem Baumbestand, der von Palmen umrahmt ist: Grantapfel-, Johannisbrot- und Olivenbäume, Feigen- und   Mandelbaumkulturen. Ich nehme Platz und ruhe mich aus. Es ist der 21. Oktober des Jahres 2021 und ich fühle mich erstmals als Wanderer mit Respekt empfangen. Danke!

Weiter geht es. Ich treffe auf ein altes Ehepaar bei der traditionellen Olivenernte. Ich frage die Beiden, ob ihr Grundstück noch zu Silves gehört oder schon zu Loulé? Der ältere Herr kommt näher und stellt mir eine Gegenfrage., Woher ich denn käme? Ich nenne ihm das Dorf, wo ich wohne und lebe. Aber er schaut mich mißtrauisch an und sagt mir auf den Kopf zu, daß ich doch ein Ausländer sei, oder nicht? Er sei immerhin viele Jahre selbst in Frankreich gewesen, zum Arbeiten. Er habe ein Grundstück übrig und fragt mich direkt, ob ich hier etwas zu kaufen beabsichtige. Nein, entgegne ich, ich habe selbst ein Grundstück und nein, ich bräuchte kein weiteres Haus. Nichtsdestotrotz, er läßt nicht locker, und beginnt mir zu erzählen, er habe noch ein Haus in Reserve, mit nur 1000 m² und schönem Baumbestand. Ich lehne dankend ab, und wiederhole meine Frage. Seine Quinta hier gehöre noch zu Silves, was sich aber dort oben am Weg ändere. Er zeigt mit dem Finger in eine Richtung, wo sich eine Baustelle befindet. Da oben beginnt bereits Loulé, der größte Landkreis der Algarve.

Eine gute Erde, die hier sehr alten Baumbestand wachsen läßt. Der Weg bietet botanische Überraschungen. Drei Windgeneratoren drehen unablässig und produzieren saubere Energie. Bei Alcaria do João geht der Wirtschaftsweg in einen Wanderweg über, der kreuz und quer, in kleinen Serpentinen alte Bauernwege nutzt, über starkes Wurzelwerk von Johannisbrot und Olivenbäume führt. Alte Terrassen, Walnüsse auf dem Boden, Mandeln und Johannisbrot. Ich bin wählerisch und beginne wieder zu sammeln. Die Via Algarviana, der alte Pilgerweg bekommt eine interessante Streckenführung, die endlich mal an bewohnten Häusern vorbeiführt. Eine Erde, gemacht für die Subsidenzwirtschaft mit Hühnern, Enten und Gänsen. Hunde bellen und ein alter maurischer Brunnen steht in der Mitte des Grundstücks. Die teilweise hunderte von Jahren alten Baumkulturen halten der Dürre und Hitze gut stand.

Der Wetterbericht spricht bei den Höchsttemperaturen des Tages von 30 Grad Celsius, trockenem Wetter und Winden aus nordwestlichen Richtungen. Ein Blick zurück aus 70 Kilometern auf das Monchique Massiv, beweist mir, was zwei Beine an drei Tagen bewegen können, eine grandiose Perspektive hinauf und zurück an einem klaren Herbsttag. Ich beginne mir vorzustellen, jetzt den Weg hinauf in die Serra do Caldeirão, das zweite Mittelgebirge der Algarve zu stemmen. Sie ist in ihrer Höhe etwas geringer und verläuft von Nord nach Süd und trennt den Barrocal vom Litoral. Hier entspringen alle Bäche und Flüsse der Algarve, der Rio Odeleite und der Rio Foupana, die nach Osten in den Guadiana münden und der Rio Arade der zuerst nach Westen dann aber nach Süden und bei Portimão in den südlichen Atlantik fließt.

Ich bin jetzt so gut wie allein unterwegs. Auf einmal, kurz vor Alte bekomme ich das Gefühl, in der Mitte der Algarve angekommen zu sein. Es sind jeweils noch 150 km nach Westen bis zum Südwestkap und die gleiche Distanz nach Osten bis zur spanischen Grenze am Guadiana Fluß bei Alcoutim. Jetzt bin ich angekommen bei mir selbst und ich habe das Gefgühl, daß meine Füße mich tragen werden, egal wie weit, egal wohin. Früher bin ich diesen Weg jedes Jahr gegangen und kannte hier jedes Haus und jeden alten Baum. Es sind noch zwei Kilometer bis nach Alte und dort rufe ich jetzt an, in meiner Herberge. Ich habe vor Tagen dort ein Zimmer gebucht.

Ein Essen für einen, der kein Fleisch ißt?

Ich stehe an der Rezeption und finde ein Besucherbuch der Via Algarviana auf dem Tresen. Darin ist das Jahr 2020 leer, das Jahr wird komplett ausgespart. Covid-19 läßt grüßen. 2020 verlief für alle Formen des Tourismus katastrophal und doch ist es das erste und einzige gute Jahr für das Klima, mit acht Prozent weniger CO2-Emissionen. Keine einzige Grußbotschaft ist im Gästebuch. Nicht das alte Hotel, sondern das Alte Hotel hat die Corona Pandemie irgendwie überstanden und das ist gut so. Rund 30 Zimmer und ein Restaurant bieten Wanderern im Zentrum des Algarve-Hinterlandes eine angenehme Rundumversorgung. Es gibt Regionen, in denen Wanderer heute ihr Zelt mitnehmen müssen, weil die Hotels die Pandemie wirtschaftlich nicht überlebt haben. Den Schlüssel in der Hand gehe ich zum Zimmer mit der Nummer 106. Ich wechsele meine Kleidung und beginne, meine Unterwäsche, das T-shirt, das Hemd und die Strümpfe mit Olivenseife im Waschbecken meines Zimmers zu waschen. Warum nicht den sonnigen Nachmittag und die Aussicht auf Küche und Dienstboteneingang nutzen, um eine Wäscheleine auf dem Balkon zu spannen und die Sonne und den Wind zu bitten, die fertig gewaschenen Klamotten so schnell wie möglich wieder zu trocknen? Einige Hotels verbieten Wanderern aus ästhetischen Gründen das Waschen kleiner Sachen. Sie haben einen kostenpflichtigen Wäscheservice für ihre Gäste, der aber meistens eine lange Leitung hat oder nicht funktioniert. Ich wasche immer meine eigene Wäsche, denn ich brauche meine Sachen gleich am nächsten Morgen getrocknet wieder. Und über Ästhetik läßt sich bekanntlich streiten. Wenig Kleidung im Rucksack bedeutet wenig Gewicht auf den Schultern. Ich möchte morgen Früh gleich weitergehen.

Das Leben eines Fußgängers ist vom praktischem Denken basierend auf Erfahrung geprägt. Ich nehme ganz wenig Gepäck mit. Mir kann kein Verkäufer einer Boutique irgendwelche Kleidung inklusive Wanderschuhe mehr aufschwatzen, die vielleicht schön und modisch aussehen, aber praktisch von wenig Nutzen sind. Ich kaufe keine von Fernost weit her transportierten, ausländischen Produkte mehr. (z.B. aus China, Vietnam oder Myanmar, etc.) Und Funktionskleidung für Wanderer sind ja auch nicht so preiswert. Oft zahlt einer nur den Namen des Schuhherstellers, auch den von Unterwäsche bis hin zum T-shirt, und selbst die Wanderhose „Made in PRC“ kostet bei einem französischen Sportausstatter zumindest die Freiheit und sogar das Leben von Uiguren. Ich kaufe auch keine Strümpfe mehr bei internationalen Ausrüstern. Stattdessen bestelle ich meine Wanderstrümpfe privat und lasse sie von Hand anfertigen. Sie werden aus natürlichem Leinen gestrickt, eine alte Handwerkskunst mit fünf Nadeln, die bis vor kurzem noch in einer Genossenschaft in Cachopo (Landkeis Tavira) dem Weitwanderer angeboten wurde. Dann verstarb eine der vier Genossinnen und die Genossenschaft wurde wieder geschlossen. Eigentlich schade, denn die handgefertigten Strümpfe aus Cachopo in der Serra do Caldeirão gehören zu den Besten meines Lebens. Sie haben meinen Füßen auf langen Wanderungen gut getan. Denn Leinen wird aus Flachs gewonnen, der gesponnen auf eine Spindel aufgenommen wird. Leinen gehört zu den natürlichsten Stoffen für Naturkleidung. Aus Leinen wurde früher in Alte, Salir und Cachopo Unterwäsche hergestellt, wurden Strümpfe gestrickt und sogar Hosen, Jacken und Kleider gewebt. Ich bevorzuge keine Baum- und auch keine Schafswolle, natürlich auch keine Acrylfasern aus Erdöl, denn kein Stoff bietet so eine gute Eigenschaft bei Weitwanderungen wie natürliches Leinen. Leinen atmet, es ist ein ganz natürlicher Stoff, der keinen Schweiß aufnimmt. Sieben Arbeitsprozesse sind zu verrichten, um einen starken gleichmäßig gesponnen Faden aus dem Flachs zu schaffen: es ist das Raufen, Riffeln, Rösten/Rotten, Trocknen/Darren, Brechen, Schwingen und Hecheln; Begriffe einer alten Handwerkskunst, die nahezu ausgestorben ist, weil man das Bekleidungshandwerk in eine Industrie transformiert hat und dann die Maschinen nach Fernost verschifft.

Die einheimischen Kunsthandwerkerinnen jedoch ziehen beim Spinnen die Fasern aus dem Knäuel, auch Wocken genannt und verdrehen den Flachs fortlaufend miteinander zu einem starken Faden. Dafür kann eine Handspindel oder ein Spinnrad benutzt werden. Die Flachspflanze wächst immer in der Nähe von Feuchtgebieten. Im Gegensatz zum Hanwerk ist die heutige Bekleidungsindustrie für den Ausstoß von mehr CO₂-Emissionen verantwortlich als die Luft- und Schifffahrt zusammen. Das gibt mir zu denken, aber auch zu handeln. Haben wir Menschen auch bei unserer Kleidung den Kontakt zur Natur verloren? Ich bevorzuge lokal hergestellte Kleidung aus Naturfasern, wo immer sie denn noch existiert.

Warum hat man in Cachopo nun ein Museum gebaut, statt das jahrhundertealte Handwerk fortzusetzen – ja, es wiederzubeleben? Das kann Dona Otilia Cardoso bestimmt erklären. Sie leitet das Museum in Cachopo, das einen Besuch ganz sicher lohnt. Ich würde ein Dutzend dieser Strümpfe bei ihr aus diesem Naturmaterial, lokal produziert, käuflich erwerben, wenn es sie denn noch gäbe. Und ich bin mir sicher, daß fast jeder Wanderer, der auf der Via Algarviana durch Cachopo kommt, das Gleiche tun würde, wenn ihm dort Strümpfe aus Leinen zum Kauf angeboten würden. Wie wichtig die klimaschonende Herstellung von Bekleidung für den Kunden geworden ist, sehen wir daran, das auf einmal fast alle internationalen Modelabes den Klimawandel bekämpfen wollen. Greenwashing läßt grüßen. Den Klimawandel bekämpfen? Das würde bedeuten, die Produktion aus Asien zurückzuholen und vor Ort in Europa, in Portugal, in Cachopo oder in Alte, auf jeden Fall  lokal zu handhaben. Und dann wäre da noch die Frage, aus welchen Stoffen, aus welchem Material stellt die Bekleidungsindustrie ihre Mode überhaupt her? Drei wirkliche Schritte in Richtung Klimaneutralität sind die Nutzung von Naturstoffen, das Recycling von ihnen und kurze Transportwege. Das ist etwas völlig anderes als das Greenwashing eines Sportschuhherstellers namens Nike.

Neben der Bekleidung ist auch die Nahrungsproduktion eine signifikante Quelle für CO2 Emissionen. Für Vegetarier und Veganer bietet die Algarve-Cuisine noch viel zu selten anspruchsvolle Gerichte. Vegetarier sind im Hinterland Portugals eine Größe, die vernachlässigt wird. Das aber kann sich bald signifikant ändern und die Algarve sollte sich besser heute als morgen auf Zielgruppen vorbereiten, die sich fleischlos ernähren. Im Jahr 2020 lag der Umsatz für vegane Produkte weltweit schon bei rund 17 Milliarden Dollar, also 13 Milliarden Euro. Die Analysten überschlagen sich angesichts der gestiegenen Wachstumsraten: Die Unternehmensberatung Boston Consulting Group geht von einem jährlichen Umsatz von 290 Milliarden Dollar im Jahr 2035 aus, das Credit Suisse Research Institute sogar von 1,4 Billionen Dollar im Jahr 2050. Entsprechend viel Geld fließt zur Zeit in diese Branche.

Auf der Speisekarte wird vegetarisches Essen mit Pfannengemüse (legumes salteados) beschrieben. Es ist nicht klar, was mich wirklich während des Aufenthalts im Hotelrestaurant erwartet. Auch deswegen mache ich diese Wanderung, um Klarheit zu gewinnen. Mich interessiert, ob es auf meiner Wanderroute bereits einige vegetarische Alternativen zum herkömmlichen Essen der Restaurants gibt. Deswegen bitte ich den Chefe de Cuisine des Hotelrestaurants zu einem Vorgespräch meines Abendmahls, denn in der Speisekarte werden nur Gerichte auf der Basis von Fleisch oder Fisch angeboten und eben Pfannengemüse. Der Chefkoch also kommt an meinen Tisch und hört sich geduldig meine Fragen und Ideen bezüglich des Abendessens an. Er nickt, dann geht er ohne ein weiteres Wort mit mir zu wechseln, in seine Küche zurück zum Kochen. Ich will mich überraschen lassen. Nach einer halben Stunde steht ein dampfender Teller mit Tagliatelle und Gemüse aus Karotten, Erbsen und Brokkoli, mit Käse überbacken auf dem Tisch. Ich stelle meinen Stuhl also so hin, daß ich den Sonnenuntergang vor dem Panoramafenster in aller Stille zusammen mit dem Abendessen genießen kann. Heute bin ich 20 km zu Fuß gegangen. Das Alte Hotel, das auf einer Anhöhe westlich des Örtchens Alte über dem Ort liegt, hat eine Aussicht über die gesamte Westalgarve bis hinunter zum Meer. Langsam fällt ein Wanderer dabei in seine ganz natürliche Urlaubsstimmung.

Ein Vegetarier braucht reichhaltige, diverse und gesunde Vollkornernährung,  wenn er zu Fuß über Land geht. Frische, reife Früchte aber auch Trockenfrüchte und Nüsse, Mandeln und Rosinen habe ich immer im Rucksack, wenn ich mich auf einen langen Fußweg begebe. Die Frage, wie gesund und klimafreundlich die Menschheit sich ernährt, trägt kontroverse Diskussionen nahezu in jedem Haushalt. Dabei geht es nicht nur um das Thema Fleisch, es geht um die aktuelle Ernährungssituation der Menschheit im speziellen. Denn schon heute ist das Thema Ernährung  für rund 20 Prozent aller CO2 Emissionen und für 90 Prozent des Wasserverbrauchs verantwortlich. Dabei stehen die Themen industrielle Landwirtschaft und Monokulturen, die intensive künstliche Bewässserung und der oft viele tausend Kilometer weite Transport von Gemüse und Früchten im Fokus der kontroversen Diskussion, und eben das Fleisch der Tiere. Es könnte so vieles ganz anders praktiziert werden, wenn Kleinbauern sich in lokalen Genossenschaften organisierten und die Vielfalt ihrer saisonalen Erzeugnisse direkt vermarkten würden. Nicht Konkurrenzen, Kooperationen sind gefragt und ein Begriff, den die meisten Menschen kaum mehr akzeptieren: Genügsamkeit.

Ein konkretes Beispiel: Hotels, Pensionen und Restaurants  könnten ihre Hühnereier lokal und von frei laufenden Hühnern für das Frühstück einkaufen. Einige Hotels im ländlichen Raum könnten sogar mit dem vielen unbewirtchafteten Platz im Hinterland punkten, wenn sie die Hühnerhaltung selbst übernehmen würden. Kreativität und Mut beim Selbstverständnis der Arbeit braucht es sowohl beim Erzeuger, aber auch genauso beim Finanzamt und der ASAE. Beamte haben bekanntlich wenig Weitblick, wenn es um klimafreundliches Produzieren von Lebensmitteln geht. Meist endet Ihr Weitblick an überholten Gesetzen, die von Abgeordneten eines Parlaments und einer Regierung beschlossen werden, die keine Ahnung von der Realität auf dem Land haben. Unsere demokratisch gewählten Vertreter sind in der Mehrzahl Juristen, Beamte und Lehrer und stammen aus der Stadt. Wenn diese vielen weltfremden Abgeordneten Gesetze im Bereich der Landwirtschaft verabschieden, betrachten sie oft nur die Subventionen, die mit der Gießkanne von Brüssel aus über Portugal ausgeschüttet werden und scheren sich wenig um die Bedürfnisse der Kleinbauern auf lokaler Ebene. Meist zählen nur die Lobbyinteressen der Agroindustrie. Die wirklichen Bedürfnisse sehen jedoch ganz anders aus. Es geht um gesunde und ausgewogene Ernährung und lokal produzierte Lebensmittel von familiären Kleinbetrieben oder Erzeugergemeinschaften.

Portugal, neben Griechenland, das Land mit der größten Bürokratie in Europa, braucht für seine Politiker und Beamten ein wenig Nachhilfe und eine etwas nachhaltigere Sichtweise auf das klimafreundliche Funktionieren seiner (Land) Wirtschaft. Warum sollte ein Restaurant keinen eigenen Gemüsegarten einrichten, warum nicht selbst ein paar Hühner und Ziegen halten und damit die Transportwege für vegetarische Lebensmittel verkürzen. Eine arbeitsteilige Welt und der Anspruch, immer mehr zu produzieren und immer schnelleres  Wachstum zu leben und immer mehr Essen in den Müll zu werfen, haben den Klimawandel erst mitverursacht und verhindern umweltfreundliche Innovationen, um klimaneutral zu wirtschaften. Im Mittelpunkt eines Wirtschaftsunternehmens und einer Gemeinde muß im Jahr 2022 die Klimaneutralität stehen. Wie erreicht man dieses Ziel? Mit Null Emissonen in jedem ob privat oder beruflich: inklusive Mobilität, Stromproduktion und der Herstellung von Lebensmitteln.

Natürlich muß an erster Stelle eine Landwirtschaft stehen, die natürlich und ohne chemischen Dünger und ohne Herbizide, Pestizide und Fungizide arbeitet, die unsere diversen Jahreszeiten und saisonale Ernten berücksichtigt – und eben kurze Transportwege. Ein Beispiel ist der Kunde „Wanderer,“ ein direkter Konsument und Natururlauber, wenn er sich das Land, durch das er geht, einmal genauer anschaut und sich die Frage stellt, welchen Sinn das eine oder das andere Verhalten ergibt?

Neben dem Alte Hotel befindet sich ein Grundstück, auf dem Gras meterhoch ungenutzt und ungepflegt eingezäunt steht. Warum und wofür und für wen? Drei bis vier Ziegen und zwei Schafe würden es kostenlos abgrasen. Ein Dutzend Hühner würde die Fruchtbarkeit durch das Scharren und Bewegen der Erde erhöhen. Einige Fruchtbäume wie Pfirsich- und Aprikosenbäume, Orangen- und andere Zitrusfruchtkulturen würden neben Früchten für die Hotelgäste auch Schatten auf das Grundstück und seinen Boden werfen. Warum also keine Bäume pflanzen? Ein Komposthaufen für die Küche des Hotelrestaurants könnte hier angelegt werden, damit der organische Abfall zu neue Erde transformiert würde und in organischen Dünger, den man im Garten wiederverwenden könnte und bei einigen Beeten mit frühjahrsreifen Erdbeeren und sommerreifen Tomaten, Gurken und Zwieben, Kräutern von Basilikum bis hin zu Salaten im kleinen Stil anzubauen, klimafreundlich, organisch und kreativ. Und eine Glasflasche mit Wasser gehört auf das Zimmer gestellt. Für wen? Für den Gast natürlich.

 

Nachhaltige Innovation benötigt sehr oft einen qualifizierten Trainer, der die Fortbildung des Personals übernimmt. Rezeptionisten, Köche, Kellner und Raumpfleger könnten ihren Horizont erweitern, wenn ihnen eine konstante Fortbildung zu ökologischem Denken und Handeln angeboten wird. Viele von ihnen haben noch nie von Permakultur gehört. Man könnte schon in der Hotel- und Restaurantschule gemeinsam lernen, einen diversen Garten anzulegen, der dem Hotel, dem Restaurant und ihnen selbst zum Vorteil wird. Es ist eine perspektivische Frage, wie das Managment die Weiterbildung des Personals angeht, welchen Stellenwert die Ökologie besitzt und ob sie ihre Gäste gesund ernähren wollen, oder ob ihnen das nicht so wichtig ist. Ein ungenutztes Grundstück könnte so zu einer blühenden Landschaft werden. Und das wiederum ergäbe eine win-win Situation für alle Beteiligten und eine dynamische Wertschöpfung, die immer Hand in Hand geht. Gut trainiertes Personal ist Gold wert und ein nahezu lehrstehendes Hotel könnte dann ja auch mal nahezu ausgebucht sein…

Ich mache eine Hotelbesichtigung und sehe keine Solarpanele auf dem Dach. Warum nicht? Zum Thema „Klimaneutralität“ gehört die Vermeidung von CO2 Emissionen und die Produktion von eigenem, sauberen Strom. Für die Duschen in den Badezimmern gehören Thermoakkumulatoren installiert, die das Wasser mittels Sonne erhitzten Die Klimagesetze der Regierung Costa (Lei de Bases de Clima) sind noch nicht in der Provinz angekommen. Was ökologisch nachhaltig ist, kann mit Sicherheit auch ökonomisch wertvoll sein. Wer seine Elektrizität selbst und sauber herstellt, braucht sich später keine Gedanken mehr zu machen, wenn die Preise für Strom von einer Woche zur anderen explodieren. Es ist eine Frage der Perspektive, welcher Investition man Priorität einräumt, speziell in einer Region, in der an 300 Tagen und mehr im Jahr die Sonne gratis scheint und –  in der das Wasser knapp wird.

 

Erstes Buch Moses, Kapitel 1, Vers 28:

“Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht…”

Wirklich?

 

So. Meine Wäsche ist sauber und über Nacht getrocknet. Ich baue die Wäschleine ab und packe meinen Rucksack. Dann begebe ich mich in den Speisesaal zum Frühstück. Diese Gedanken kommen mir während ich anstehe wie bei einer Behörde. Ich stehe mit meinem Tagebuch in der Hand an der Frühstücksausgabe und warte, daß ich einen Teller in die Hand gedrückt bekomme. Bin ich in einer Jugendherberge? Mit dem Blick durch das Panoramafenster über die gesamte Westalgarve frage ich mich, wie viel Kilogramm Müll pro Tag und wie viele Tonnen Abfall pro Jahr in einem Hotel entstehen, wenn man die vielen kleinen Plastikverpackungen für Butter, Marmelade und Honig einmal zusammenzählen würde, die beim Frühstück und im Restaurant anfallen und die nach Gebrauch einfach weggeworfen werden. „Verschwendung von Ressourcen?“ schreibe ich auf und „Aus den Augen, aus dem Sinn?“ Wie viele Tonnen CO2 werden bei der Produktion und dem Transport dieser Lebensmittel vom Produzenten bis zum Endverbraucher „Gast“ emittiert, wenn diese Lebensmittel in einem zentralen Cash & Carry eingekauft werden – im Gegensatz zu  lokaler, dezentraler Herstellung und das Geld dafür bliebe sogar im Wirtschaftskreislauf des Dorfes und gäbe der lokalen Wirtschaft einen Boost? Oder anders gefragt, wie viel CO2 für nutzlose Verpackung könnte eingespart werden, wenn ein Land, eine Wirtschaft und ein Hotel sich an der lokal organisierten Wirtschaft aktiv orientieren und sich beteiligen würden? Jede Wirtschaft, jedes Unternehmen braucht einen, der damit beginnt die ökologische Erneuerung zu initiieren und dabei andere Unternehmen motiviert, mitzumachen. Und letztendlich soll es sich ja auch rentieren. Die monatliche Stromrechnung ist daher ein wichtiger Indikator für Nachhaltigkeit. Wer seinen Strom selbst produziert, der lernt, sich von einer Stromrechnung und der Produktion auf Basis von dreckigen Brennstoffen unabhängig zu machen.

Auf dem Weg durch das 120 km lange Zentrum der Algarve, das ich zu Fuß begehe, fallen mir immer mehr Dinge auf. Ich übernachte auch immer in kleineren Pensionen, die ihren Wanderern und anderen Gästen vermehrt lokale Produkte zum Frühstück anbieten: vom Honig des lokalen Imkers, über das Olivenöl der lokalen Ölivenölmühle bis hin zu Marmeladen “selbst gemacht”, frischen Ziegenkäse, eigene Erdnußbutter, Sardinenpaste und Brot und Brötchen von der Nachbarbäckerei, nebst Seifen vom lokalen Seifenmacher für das Badezimmer. Deshalb fällt mir das Frühstück im Alte Hotel auf. Ich gebe den künstlichen geklebten Schinken namens „fiambre“ zurück und auch der Industriekäse repräsentiert weder Portugal noch die Algarve. Der Kaffee kommt aus einer Maschine, deren Knöpfe der Kunde selbst drückt. Danach wird der Kaffee gemahlen und der programmierte Kasten macht den Rest. Und woher stammt die Milch? Aus einer Tetra-Pack Tüte. Wenn diese dann leer ist, wandert sie in den Müll und ich werde sie bei meiner Wanderung auf der Mülldeponie im 30 km entfernten Cortelha wiedersehen. Die Via Algarviana führt in der Nähe der Deponie vorbei und auf diese Weise trifft man alte Bekannte wieder. Ich habe eine FFP2 Maske im Rucksack, wegen der noch immer nicht ganz ausgestandenen Corona Pandemie. Aber ich werde sie wohl oder übel auch wegen der Mülldeponie und der Autoabgase von Brennstoffen wie Diesel und Benzin benutzen müssen. Denn mein Weg führt auch über Teerstraßen und unter der Algarve Autobahn hindurch. Und an Tankstellen. Auf dem Weg von Alte nach Salir frage ich einen Tankstellenbesitzer in Benafim, warum er neben Benzin und Diesel nicht auch einen Stromanschluß für Elektroautos bereitstellt?

Die Antwort? „Wenn es nach mir ginge, würde ich Elektroautos verbieten und alles bliebe, wie es ist.“ Zeit, aufzubrechen. Das Land entwickelt sich oder auch nicht.

Uwe Heitkamp (60)

ausgebildeter Fernsehjournalist, Buchautor und Hobby-Botaniker, Vater zweier erwachsener Kinder, kennt sei 30 Jahren Portugal, Gründer von ECO123.
Übersetzungen : Fernando Medronho & Kathleen Becker
Fotos: Uwe Heitkamp, Henk Hin

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