Ein kleines Reisetagebuch in drei Akten, vielen Zügen und mit hunderten von Erdbeerbaumfrüchten
Meine Reise soll also von der der Insel Vilm an der deutschen Ostseeküste durch ganz Westeuropa bis in den südlichsten Teil Portugals gehen, in 48 Stunden. Wie das gut gehen soll? Mein Fährticket und meine sieben Zugtickets sprechen eine simple Sprache; sie sagen mir: Du wirst im nebligen Vilm in die Fähre einsteigen, dann vier mal umsteigen, eine längere Zeit schlafen, dann zwei mal umsteigen, wieder schlafen, umsteigen und… im sonnigen Santa Clara Saboia aussteigen! Diese Herausforderung nehme ich gerne an.
Akt 1 – Slow travelling
Eigentlich nicht so überraschend, dass diese entschleunigte Art des Reisens mit dem Zug nicht nur ökologisch ist, sondern auch so angenehm, dass sie ruhig noch etwas weiter hätte reichen können – wenn nicht die Algarve ohnehin schon der extreme Zipfel Südosteuropas wäre. Danach kommt nur noch Portimao, und dann das Meer. Aber so weit bin ich noch nicht: In Paris nutze ich die drei Stunden Aufenthalt, um in dem Lieblingscafé aus meiner Studentenzeit, le „Carrefour“ im Quartier Latin der eigentlich schon pensionierten Paulette für einen Kaffee aufzusuchen. Carrefour steht im französischen für Wegkreuzung. Ich bin gespannt.
In jenem Moment, an dem ich am frühen Abend in Irun spanisches Baskenland betrete und mich eine schwüle Wärme und strömender Novemberregen empfängt, kommen fast wie auf Knopfdruck „Urlaubsgefühle“ auf. Allein die Atmosphäre im Nachtzug wirkt auf mich charmant befremdlich, um nicht zu sagen exotisch: Die Bar etwa hat eine unendlich lange Theke, an dem der joviale portugiesische Barmann seinen Gästen nur flaschenweise Rotwein kredenzen will („Vasos nao temos, solo meia botelha o gran botelha“) und dazu gerne wohlgelaunt singt. Schön.
Die Nacht im portugiesischen Nachtzug verläuft allerdings auf der oberen Koje im Viererabteil etwas unbequemer als im deutschen Pendant von Berlin nach Paris; irgendwie… rumpeliger. Alexander, mein sentimentaler Schlafkojennachbar aus Belgien ist ausgerechnet Lokomotivführer. Er klärt mich über das Rumpeln auf: Die Radachsen der portugiesischen Züge sind mit einfachen statt mit doppelten Räderaufhängungen konstruiert, mit der Folge, dass die Unebenheiten der Gleise eins zu eins in die Waggons, und eben auch in unsere Kopfkissen übertragen werden. Die sei im übrigen akustisch daran zu erkennen, dass statt dem sonst üblichen „Ta-tamm, ta-tamm…“ nur das einsilbige „Tamm…“ ertönt, wenn ein Waggon einen neuen Schienenabschnitt überfährt.
Das Gebeuteltsein stört mich erstmal nicht weiter, denn der so beredte wie leidenschaftliche Bahnbeamte mit seinem ledernen Köfferchen und seiner umgehängten, altmodischen Spiegelreflexkamera wird mir noch den ganzen Abend lang vom Niedergang der europäischen Zugstrecken erzählen; von der Zeit, als man noch an einem Schalter ein einziges Ticket ausgehändigt bekam und damit doppelt so schnell wie heute durch ganz Europa reiste. Er teilt mir sein schlechtes Gewissen mit, weil seine Kollegen streiken und er aber gerade Urlaub genießt. Wir bedauern die Kerosinsubventionen, erträumen uns einen Transeuropa-Express, vergessen die Zeit und…
… wachen erst kurz vor Lisboa auf, wo der Sonnenaufgang die 25 km lange Vasco da Gama Brücke dramatisch in Szene setzt.
Akt 2 – Die zwei Seiten der Papiermedaille
Von der grassierenden Eukalyptusfrenesie hatte ich bereits auf einer Argentinienreise erfahren; doch hier auf der letzten Zugstrecke von Lissabon nach Santa Clara Saboia, in den letzten hundert Kilometern offenbart sich mir ein ungewöhnlicher Anblick: Die Plantagen wachsen auf eigens in den roten Stein gefrästen Terrassen. Ich denke mir dabei, um mir ein gutes Gefühl einzureden: Sind diese Terrassen nicht auch nützliche Bauwerke gegen Bodenerosion? Und kann etwas, was so gut duftet, wirklich schlecht sein? Wie ich später erfahren muss, bleibt kein gutes Haar an dem importierten Gewächs hängen: Es greift anderen Lebewesen sämtliches Wasser und Nährstoffe ab, versauert den Boden und hinterlässt nach dreißig Jahren intensiven Anbaus nur verbrannte Erde, und zwar im figürlichen wie im buchstäblichen Sinne, da diese Bäume wie Brandbeschleuniger wirken sollen.
Erste eigene, praktische Erfahrungen mit Eukalyptus mache ich allerdings erst auf meiner Wanderung aus der Nähe des Berdörfchens Monchique – der ersten Station meiner Portugalreise – zum Berg Picota. Es geht auf einem schmalen Pfad sanft den Hang hinauf, mit federndem Schritt an Schirmpinien, Korkeichen vorbei sowie an Erdbeerbäumen, von denen mich bisher noch jeder einzelne von ihnen dazu verführen konnte, aus seinen Ästen die rötesten und süßesten aller Früchte zu angeln und mir schmatzend zuzuführen. Hier regt sich das Leben: Ich sehe etwa den ersten Feuersalamander meines Lebens! Überhaupt zwitschert es von überall her, es plätschert und gluckert. Der letzte schlimme Waldbrand von 2003 scheint dem Laien so gut wie unsichtbar, wenn nicht hin und wieder verkohlte Pinienstümpfe in die Luft ragen würden.
Ganz anders, als ich die 550 Höhenmeter überschreite und in dichten Eukalyptuswald gelange. Wenn nicht das Rascheln der Blätter wäre, würde hier Totenstille herrschen. Auch die Vögel spurlos verschwunden, es regt sich kein Tierchen mehr, kaum ein Insekt. Beklemmend.
Da der Sonnenuntergang naht, überwinde ich schnell noch die verbleibenden 200 Höhenmeter zum Gipfel des Picota. Der kalte, böige Wind lässt mir kaum Zeit zum Genießen der Aussicht und treibt mich zurück in den Eukalyptuswald, der mir nun immerhin Windschutz und die nötige Geborgenheit für mein kleines Lager bietet. Die regennassen Äste wollen erst nicht richtig brennen und so ist es mir ein doppeltes Vergnügen, die Kartonverpackung meines Notproviants einer zweiten Verwendung zuzuführen und den Inhalt – eine riesige Portion Alfarrobo-Kuchen aus Johannisbrotmehl, Feigen und Marzipan – selig zu verspeisen. Die Flammen lodern, die Sterne funkeln zwischen den Zweigen. Und als der Mond hell leuchtend aufgeht, bin ich schon am Schlafen.
Akt 3 – Lissabon
Der erste eigentliche „Tourstopp“ zur Vorführung meines Films „Voices of Transition“ führt mich nach Lissabon. Vieles kommt hier zusammen, was mir Liebe auf den ersten Blick bescheren könnte: Meine Schwäche für maritime, hügelige Hafenstädte im allgemeinen, meine besondere Empfänglichkeit für Kopfsteinpflaster und gewundene Gassen im besonderen… Aber statt zur nach Stockfisch und frischer Wäsche duftenden Altstadt geht es zuerst in ein Amphitheater der Soziologiefakultät am Campo Grande. Dort werde ich vor Beginn des Abends von Gil Penha-Lopes, dem brillanten und quirligen Dozenten und Aktivisten (sic!) empfangen, sowie auch von den studentischen Permakultur-Gärtnern, die höchst strategisch – direkt an der Terrasse des Studenten-Cafés – eine essbare Kulturlandschaft gepflanzt haben: Zu jedem „Bica“ (Kaffee), der hier konsumiert wird, gibt es hier gratis den Blick auf Kiwis, Olivenbäume und den Lavendelduft dazu!
Da in Portugal das „akademische Viertel“ in aller Regel ein bisschen großzügiger ausgelegt zu werden scheint, nutze ich die mir „geschenkte“ Viertelstunde vor Filmstart, um die Gäste zu studieren, die den Saal langsam füllen. Die meisten sind zwischen zwanzig und Mitte dreißig, einige bereits in der Bewegung aktiv, teilweise von weither kommend. Alle verbindet etwas mit der Natur; zwei von ihnen sogar etwas mit einem belgischen Lokführer, der sie hierher gelotst hat!
Der Film regt enthusiastischen Applaus an, was mich sehr berührt. Zeigt er doch, dass die „Stimmen des Wandels“ mit ihrer pragmatischen und positiven Transition-Philosophie auch hierzulande Resonanz erzeugen. Und dass sie hier die Menschen zum Aufbruch animieren können, um durch das Aufbauen einer lokalen, ökologischen Wirtschaft dem durch die neoliberale Austeritätspolitik völlig ausgezehrte und entmutigte Land neuen Schwung zu geben.
Unter den vielen Fragen im Anschluss kommt auch die persönlichste: Wie kamst Du überhaupt dazu, diesen Film machen zu wollen? Ich erzähle von meiner inspirierenden Begegnung mit der Permakultur vor zwölf Jahren, vom meiner leidvollen eigenen Erfahrung des Landraubs im von Agrarkonzernen beherrschten Argentinien und schließlich von der Art und Weise, wie schwierig es war, dieses hoffnungslos unterfinanzierte Projekt über so viele Jahre voranzutreiben, bis zu seiner Fertigstellung.
Wenn man will, kann man das Filmemachen mit dem Destillieren von Medronho-Schnaps vergleichen. Man sucht sich die besten Geschichten (Früchte) raus und dampft diese ein, indem man sich die Nächte schwitzend um die Ohren schlägt, bis am Schluss eine möglichst geistreiche Essenz übrig bleibt, mit der man (Dinge) anstoßen kann? Auf unser Wohl, Portugal: Mögen die Transition-Geister aus der Flasche kommen und Gutes anstiften!
PS: Der nächste Tour-Stopp mit dem Film ist das kleine Städtchen Fundao. Mir ist gesagt worden, dass es dort noch keine Transition Initiative gibt: Wer weiß, was die „Voices of Transition“ dort anstoßen werden?