Horst ging für sein Leben gern ins Kino. Er hatte nur zu wenig Zeit und noch weniger Geld, um jedes Mal den Eintritt zu bezahlen. Sein Glück war, dass er genau neben dem Kino wohnte. Im ersten Stock über seiner Kneipe befand sich an seiner Wohnzimmerwand ein gerahmtes Bild, das ein Loch in der Wand verdeckte, wie das einer Kamera Obscura. Eines Tages verriet er mir sein Geheimnis. Er nahm das Bild ab und zeigte mir augenzwinkernd, was man durch das Loch alles sehen konnte. So entführte er mich in die weite Welt des Kinos. Umsonst. Denn durch das Loch erhaschte mein Auge den direkten Blick auf die große Leinwand und einen Film. Er schob sich den Hocker vor die Wand, einen Tisch, öffnete ein Bier und löschte das Licht im Raum. Dann machte er es sich bequem. Allerdings musste sich Horst die Filme immer von hinten und seitenverkehrt anschauen. Der Ton in Stereo Dolby war oft so laut, dass man im Wohnzimmer alle Dialoge auch ohne Bild gut verstand. Mehr verrate ich nicht, nicht über das Kino und auch nicht über Horst.
Luís ist ein cleverer Geschäftsmann. Ich hatte ihn um ein Interview gebeten. Das hat er abgelehnt. Was nun? So wie wir den Landwirtschaftsminister um ein Interview baten und der während vieler Wochen als Ausrede „Zeitmangel“ vorschob. Ach quatsch, er hatte Zeit genug. Es war einfach die Angst im Nacken vor unseren Fragen. Seien wir mal ehrlich, von guter Landwirtschaft hat der Minister nicht wirklich Ahnung. Aber gut Kungeln und Verhandeln kann er gut. So einen bewährten alten Mann setzt eine Partei doch auf den Posten des Ministers. Da kann er nichts falsch machen. Da sitzt er richtig. Die Politik machen dann seine Beamten in den Behörden.
Ich mache mich jetzt selbst auf die Socken, durch das Loch zu schauen. Ich stehe am Zaun, der mit gut 1,80m Höhe bedeutend größer ist als ich selbst und mir trotzdem Einblick in eine andere Realität gewährt: durch die etwa 15 cm großen Maschen betrachte ich die in Reih und Glied stehenden jungen Bäumchen der größten Avocado Plantage Europas. Sie sind wie die Pfosten des Zauns in vier Meter Abstand voneinander von einer Maschine gesetzt worden. Ob man mit einer Maschine sowohl die Bäumchen als auch die Pfosten in die Erde rammen kann? Das wäre meine erste Frage an Luís gewesen. Ich interessiere mich für Technik. Aber auch bei ihm spürte ich dieses Unbehagen vor meinen Fragen. Ich bekam das Gefühl, dass er genau wusste, er hatte mit seinem Megaprojekt etwas nicht ganz richtig gemacht. Doch was war das noch, was er hätte anders machen können? Ich wollte das rausbekommen und beginne deshalb meine Wanderung am Zaun an der Westseite, statt des Interviews. Ein perfekter Tag für eine Wanderung. Die Sonne scheint und es weht ein kühler Wind. Vor mir liegen gut zweieinhalb Stunden intensiver Wanderschaft, nicht nur entlang der Via Algarviana, dem beliebten Wanderweg der Algarve, sondern auch auf einem rotbraunen Pfad am Zaun entlang.
Der besagte Zaun wird mit drei Reihen Stacheldraht zusätzlich von Pfosten zu Pfosten auf seiner Krone abgesichert. Eine Maßnahme, die mich und meinen Blick abschrecken soll aber gleichzeitig darauf aufmerksam macht, dass hinter diesem Stacheldrahtzaun wohl etwas Wertvolles liegt. Privatbesitz, so steht es auf rotweißen Warnschildern am Zaun geschrieben. Im Uhrzeigersinn gehe ich um die 1.000 mal 760 Meter große Plantage. Ich möchte Luís verstehen zu lernen.
Dabei geht mir Horst nicht aus dem Kopf. Der Name hat seinen Ursprung im Wald. Und genau da stehe ich, angewurzelt wie ein Baum. Vor drei Jahren gab es hier noch keinen Zaun und der Wald setzte sich dort fort, wo heute die Reihen von Avocados stehen. Ich stelle mir vor, wie Luís und sein Bruder in den Besitz des Waldes und des restlichen Grundstücks gekommen sind, das ja noch viel größer ist als nur die 76 Hektar. Der vorherige Besitzer hatte es komplett verpfändet und es dann an die Bank verloren. 150 Hektar fruchtbares Land, auf dem ehemals hunderte von Kühen, Pferden, Ziegen und Schafe weideten und eine Feigen- und Johannisbrotplantage stand. Die Bank wollte es loswerden, irgendwie wieder zu Geld machen, mit Zinsen und Zinseszinsen.
150 Hektar Land sollten für 800.000 Euro den Besitzer wechseln. Es wurde gefeilscht und hin und her verhandelt. Zuerst wurde es den Nachbarn zum Verkauf angeboten und später vielen Interessenten auf dem Immobilienmarkt. Die Banker hatten keine Ahnung von Vielfalt und traditioneller Landwirtschaft und es dauerte viele Jahre, bis sie endlich in Luís und seinem Bruder die Käufer fanden. Land an der Algarve wird manchmal verkauft wie lebendige Hühner auf dem Wochenmarkt. Sind sie endlich in der Tragetasche des Käufers gelandet, ist das Leben des Tiers keinen Cent mehr wert. Es wird schnell geschlachtet und landet als Galinha Cabidela mit blutigem Reis auf dem Teller. Jeder Quadratmeter des fruchtbaren Bodens ging 2014 für weniger als 50 Centimos über den Tisch des Notariats. Große und alte Korkeichen gingen ebenso über den Ladentisch wie Schirmpinien, uralte Oliven und Johannisbrotbäume wie Feigen- und Mandeln. Ich gehe weiter zu Fuß an diesem Zaun entlang, durch Schatten und Sonne, über moosigen, sandigen und blumigen Waldboden. Der Film, den ich durch den Maschendraht sehe, spielt in einem Gefängnis. Da stehen Männer mit Motorsägen und arbeiten. Die Motoren kreischen und heulen. Sie fällen alte Schirmpinien, historische Korkeichen, den gesamten Feigen- und Johannisbrotbaum-Bestand, die gerade so alt sind, dass sie jedes Jahr gute Ernten abwerfen. Aber wer will heute noch Feigen essen und wer Johannisbrot? Vor nicht langer Zeit müssen Wanderer sich einen Scherz erlaubt und einige hundert Eicheln am Stacheldraht aufgespießt haben. Ein Wink mit dem Zaunpfahl.
Der erste Kilometer in altem Wald war idyllisch. Er endet an der Nordseite. Das Grundstück grenzt an eine Ruine. Auf der Westseite des Geländes, sind einige Bäumchen schon fast zwei Meter hoch. Auf der Südseite aber, wo meine Wanderung später enden wird, sieht man viele Bäume, die den letzten Winter nicht überlebt haben und falls doch, nicht mal einen Meter hochragen. Ich passiere gerade einen Grenzstein und gehe einen Weg, der wie mit dem Lineal gezogen wurde von Nord nach Süd, immer am Zaun entlang. Jeder Schritt tut weh. Die kleinen Bäumchen stehen da teils verkrüppelt, geschlagen, angebunden und mit Roundup vergiftet wie in Auschwitz. Der Film spielt weiter und bei jedem Schritt, den ich tue, erinnere ich mich, wie es auf der Müllkippe aussieht, um deren Zaun ich vor ein paar Wochen wanderte, dort wo wir einen anderen Film drehten und wo die Reste unserer Zivilisation heute beerdigt liegen. Warum eigentlich leben wir so? Nur um immer Geld zu verdienen? Oder geht es auch um einen höheren Sinn? Was hinterlassen wir den Nächsten, wenn wir uns von dieser Erde verabschieden und was nehmen wir mit?
Ich gehe Schritt für Schritt an alten Steinmauern vor dem Stacheldrahtzaun entlang, stoße auf verlassene kleine Bauernhöfe, auf nicht mehr fahrbare Schrottautos, auf Lagerhallen, deren Wellblechdächer wie in alten Western lose im Wind hin und herpendeln. Die Gegend hat schon bessere Zeiten erlebt. Einen weiteren Schwenk mache ich hin zur Straße, die nach Barão São João führt. Als Portugal der EU beitrat, begann die traditionelle Landwirtschaft langsam und qualvoll zu sterben. Kein Landwirtschaftsminister hat sich je mit einem Bauern hier an einen Tisch gesetzt und sich seine Sorgen angehört. Keiner von diesen Großstadt-Politikern hat sich jemals Arbeitsschuhe angezogen, um sich selbst im Land umzusehen, wie es dem Boden geht und wie viel Müll da neben den halbtoten Fruchtbäumen auf einer anderen verlassenen Plantage herumliegt. Mit der Sonne zerfallen in Zeitlupe die alten Plastikschläuche und Tüten von Kunstdünger. Monokulturen machen arm. Es wird nicht lange dauern, dann wird auch die Avocado-Plantage ihr Zeitliches segnen: das alles ist nur eine Frage der Zeit und der Umstände. Viel Glück Luís!