Home | Welt | Alle Tage Indien
Szene aus unserer Dorfschule (Foto Jenner Zimmermann)
Szene aus unserer Dorfschule (Foto Jenner Zimmermann)

Alle Tage Indien

5. Folge

Die Geschichte von zwei Dörfern

Seit über vierzig Jahren lebe ich in Indien, davon die letzten dreißig Jahre in der kleinen Universitätsstadt Santiniketan, die etwa 150 Kilometer nördlich von Kalkutta liegt. Dort habe ich zunächst studiert, danach blieb ich, um den bedeutenden indischen Dichter Rabindranath Tagore vom Bengalischen ins Deutsche zu übersetzen. Dort habe ich die Gespräche des Hindu-Heiligen Sri Ramakrishna übersetzt, sowie Bücher über den Hinduismus und den Dialog der Religionen verfaßt und herausgegeben. In zwei Stammesdörfern begann ich vor dreißig Jahren, zusammen mit jungen Männern aus diesen Dörfern eine alternative Entwicklungshilfe aufzubauen. Diese Zusammenarbeit war das Thema eines Vortrages vor nicht allzu langer Zeit auf der Quinta dos Vales in Estombar bei Lagoa..

Mich begleitete Madan Thapa Magar, den ich ein Jahr zuvor in Nepal kennengelernt hatte. Ein Ehepaar hatte mich zu einer Wanderung in der Manaslu-Region westlich von Kathmandu eingeladen, die bis in das wenig bekannte Tsum-Tal führen sollte. Zwei Wochen waren wir unterwegs. Ein Team von Trägern und Küchenpersonal sowie zwei Bergführer begleiteten uns. Der Bergführer, der sich mir anschloß, war der dreiundzwanzigjährige Madan Thapa Magar. Mir imponierte seine Aufmerksamkeit und Treue auf dem schwierigen Weg durch die Hochgebirgstäler. Er wanderte beharrlich einen halben Schritt hinter mir her, warnte mich, half mir, wartete geduldig, wenn ich wieder zu Atem kam, sang fröhlich Nepali-Filmsongs und gab meinen Anstrengungen die positive Ausrichtung und Freude, die ich allein nicht fand.

Seminar in unserer Dorfschule
Seminar in unserer Dorfschule

Abends kamen wir ins Gespräch. Madan erzählte über sein schwieriges Leben. Er ist der Sohn einer armen, kinderreichen Familie in einem Bergdorf des Distrikts Solukumbhu. Er besuchte die Schule im Nachbardorf, doch als Fünfzehnjähriger begann er, für die Familie Geld zu verdienen. Er arbeitete beim Bau einer Straße und eines Hauses, um sich das Geld für den Nachhilfeunterricht zu verdienen. Mehrmals im Jahr zog er als Träger mit Trekking-Touristen durch die bekannten Bergregionen. Man stelle sich das in etwa so vor: mit 30 kg und mehr auf dem Rücken wanderte ein noch nicht ausgewachsener Junge über die riskanten Bergwege in oft großer Höhe. Einmal erkrankte er lebensgefährlich. Monatelang verpaßte er seinen Unterricht. Er gab aber nicht auf, wie viele andere, sondern setzte die Schule fort und erhielt, als ich ihn kennenlernte, gerade die Zulassung zum Universitätsstudium. Madans Strebsamkeit und Willenskraft waren das Zweite, das mir an ihm imponierte. Inzwischen hat er seinen Job als Trekking-Führer aufgeben können und ist Student der Betriebswirtschaft in Kathmandu.

Ich lud Madan ein, mit mir nach Europa zu kommen, um an meinem Vortrags- und Besuchsprogramm, das mich diesmal durch halb Europa führte, teilzunehmen. Ich war in Deutschland, Italien und Portugal eingeladen worden, über meine Arbeit in den indischen Dörfern zu berichten. Madan sollte seinerseits von seinem Dorfleben in Nepal erzählen. Letzten Mai hatte ich mit Madan sein Dorf Merangdi in Solukhumbu besucht und durfte eine Woche im Haus seiner großen, weitverzweigten Familie wohnen. Madan hatte Fotos gemacht, die wir zeigen konnten. So kam die Veranstaltung in Quinta dos Vales zustande.

INDIEN

Ich hatte mich schon früh dazu entschieden, in Indien nicht nur als Deutschlektor zu arbeiten, nicht nur zu studieren und als Schriftsteller zu wirken, sondern mit den Menschen so eng und vertraut zusammenzuleben, wie es eben möglich war. Ein solches Zusammenleben führt unweigerlich und organisch zu einem gegenseitigen Helfen und Fördern, wie es unter Freunden eben möglich und notwendig ist. Ich wurde kein professioneller Entwicklungshelfer, arbeitete in den Dörfern nie für ein Gehalt, sondern sah mein Wirken als die Erweiterung des Dienstes eines Freundes für Freude an.

Da es mir wichtig war, einen engen freundschaftlichen Kontakt zu den Mernschen in den Dörfern zu errichten, vereinfachte ich radikal meinen Lebensstil. Ich wohne sehr schlicht ohne Fernsehen und Radio, ohne Klimaanlage und Kühlschrank. Man baute mir ein winziges Lehmhaus in Ghosaldanga, worin ich übernachte, wenn ich die Dörfer besuche. So fühle ich mich mit dem Leben der Menschen und mit der Natur verbunden.

Kostet soziale Aufbauarbeit Geld? – Nein, nicht viel. Zuerst entdeckte ich Sona Murmu, den einzigen Jungen in Ghosaldanga, der damals einen Schulabschluß mit der zehnten Klasse geschafft hatte. Ich förderte ihn, damit er das College besuchen konnte. Ihn verpflichtete ich als Gegendienst, eine Abendschule für die Kinder im Dorf einzurichten. So fing es an.

Außerdem pflanzten wir Jahr für Jahr Hunderte von Bäumen. Das kostet nichts, es verlangt aber Arbeitskraft und Disziplin. Es ist eine gute Schulung in vielen Bereichen und verwandelt die Umwelt radikaler und positiver als jede andere Einwirkung. Als Drittes kam eine damals noch rudimentäre medizinische Versorgung hinzu. Kranke brachten wir zum Arzt und sorgten dafür, dass sie ihre Medikamente einnahmen. Mir war bewusst, dass wir Menschen nicht zu einer Aufbauarbeit motivieren konnten, wenn wir sie nicht in Krisenzeiten – etwa bei Unfällen und Krankheiten, bei Geburten und Todesfällen – unterstützten.

So begann das Werk, das über die Jahre und Jahrzehnte langsam gewachsen ist. Wir haben inzwischen Abendschulen in fünf Dörfern aufgebaut, eine Tagesschule mit Schulheimen für Mädchen und Jungen. Über hundert Jugendliche haben die Schule abgeschlossen, zahlreiche Jungen und Mädchen machen College- und Universitätsabschlüsse. Die medizinische Versorgung ist professionell von einer deutschen Ärztin organisiert worden und ein großer Garten mit biologischem Obst- und Gemüseanbau versorgt unsere Schulkinder.

NEPAL

Madan Thapa Magar ist vor fünf Jahren in die Hauptstadt Kathmandu gezogen, weil er in seinem Dorf keine weiterführende Erziehung bekommen konnte. Er wohnte bei Verwandten, besuchte die Schule und arbeitete für seinen Unterhalt als Bergführer. Er hatte genügend Englisch gelernt, um vom Träger zu einem Bergführer zu avancieren. Als er Ende 2013 endlich sein Studium beginnen konnte, entschied er sich für das Fach „Business“ – Betriebswirtschaft. Warum? fragte ich ihn. – Die Antwort war klar und einfach: „Nach dem Studium möchte ich viel Geld verdienen. Das ist mit diesem Studium am ehesten möglich!“

Führen wir uns Madans Situation vor Augen: Seine Eltern waren verschuldet, seine Brüder, die keine Schulbildung besitzen, haben entsprechend niedrig bezahlte Jobs als Holzfäller und Besitzer eines kleinen Ladens. Der ältere Bruder verdiente sechs Jahre im Iran und in Dubai Lohn als einfacher Arbeiter. Viele andere Mitglieder von Madans Magar-Stamm und Nachbarn im Dorf waren entweder im Trekking beschäftigt oder schufteten in den Golfstaaten und in Malaysia unter harten, manchmal brutalen Bedingungen. Diesem Teufelskreis versuchte Madan durch bessere Bildung zu entkommen, die meist zu besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen führt.

Er begann über sein Lebensziel nachzudenken, als er einen Sponsor bekam, der ihm das Universitätsstudium ermöglichte. Welche Motive hatte dieser Mann? Er wollte sein Geld nicht zurück, er wollte einfach nur anonym helfen, damit ein Mensch eine bessere Zukunft bekommt, und vertraute Madan, dass er diese Mittel nicht mißbrauchte. Gegen Ende seines ersten Studienjahres und wenige Wochen vor seinem Europa-Aufenthalt sagte mir Madan am Telefon, er wolle Sozialarbeiter werden – in seinem Dorf oder in der Nähe. Wenn jemand, der nicht zu seiner Familie und seinem Stamm gehört, so viel für ihn tut, dann möchte er etwas für weniger privilegierte Menschen in seinem Umkreis tun.

PORTUGAL

Diese Geschichte erzählte Madan erstmals in Portugal: von seinem Wunsch, in seinem Land zu bleiben, um dort „etwas zu tun“. Von seinem Versuch, gegen den Strom zu schwimmen und trotzdem oder gerade deswegen erfüllt zu sein. Er zeigte Fotos von dem Weg zu seinem Dorf. Wie er frühmorgens in der Dunkelheit im Jeep abfuhr und über holprige Wege abends die Nähe seines Dorfes erreichte. Wie er bei Verwandten übernachtete und am nächsten Morgen die Reise zu Fuß fortsetzte, bis er zwei oder drei Stunden später Merangdi erreichte. Er zeigte Fotos von den alltäglichen Verrichtungen im Haus, in der Küche, im Hof und auf dem Feld. Etwa von zwei Ochsen, die den Pfahlpflug ziehen, und von seiner Mutter, die dahinter geht und die Samen streut. Vom Kochen und dem Zubereiten der Speisen. Vom Leben des hochbetagten Großvaters, der mit der Familie lebte, weil niemand ihn in ein Altenheim schicken würde.

Was möchtest du werden? fragte ich Madan im Laufe der Veranstaltung. – „Ich möchte etwas für meine Familie und mein Dorf tun. Noch weiß ich nicht wie, aber ich bereite mich mit meinem Studium auf diese Aufgabe vor“, sagte er.

Im Weingut Quinta dos Vales in Estombar-Lagoa war die Geschichte von zwei Dörfern zu hören – von Ghosaldanga, in dem schon dreißig Jahre lang der Geist der Veränderung weht; und von Merangdi, in dem sich ein junger Mann darauf vorbereitet, auch diesen Wind zu entfachen. Danke.

Mehr Informationen erhalten Sie unter www.dorfentwicklung-indien.de Martin Kämpchen arbeitet als Journalist, Übersetzer und Schriftsteller in Indien für das Feuilleton der FAZ, für Ceylon Today, The Statesman u.a. Seine Bücher erschienen bei Rowohlt, Insel und Herder.

Check Also

In Demut für den Frieden.

Samstag, der 14. Oktober 2023. Zum Frieden und zum Erhalt des Friedens braucht es aktives …

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.