Der Zug ist das umweltfreundlichste Transportmittel mit den geringsten Emissionen auf kurzen wie auf langen Strecken. Ich habe vor, einen Bericht über ein nachhaltiges arbeitendes Wirtschaftsunternehmen mit dem Namen GEA zu schreiben. Insgesamt werde ich dafür in zwei Wochen fast 7.000 Kilometer mit Zug und Interrail zurücklegen. Meine Reise beginnt am Bahnhof der südspanischen Stadt Huelva. Ziel ist der kleine Ort Schrems in Österreich, eine Reise in das Herz Europas. Mit wie vielen Geschichten im Rucksack werde ich wohl zurückkehren?
Der Pfiff des Zugbegleiters an der Tür meines Waggons in der Bahnstation von Huelva schrillt durch die frühmorgendliche Stille. Sofort setzt sich fast geräuschlos die elektrische Lokomotive in Bewegung. Die Sonne steigt langsam, geradezu widerstrebend, aus dem Meer. So beginnt die erste Etappe nach Madrid. In der spanischen Hauptstadt am Bahnhof Charmartin angekommen, mache ich mich daran, eine kunstvolle, an antike Gleise erinnernde Performance zu fotografieren. Sofort werde ich von einem aus dem Nichts auftauchenden Polizisten angesprochen: “Sie fotografieren hier? Sind Sie Journalist?” Ich bejahe. Er verlangt meine Dokumente. Nach einer kurzen Befragung unterhalten wir uns noch ein wenig. Er erzählt, dass ihm das Attentat am Bahnhof von Atocha im Jahr 2004 ständig präsent sei. Er habe damals zu den Ersten gehört, die nach der Explosion den Ort des Geschehens erreichten. Er warnt mich, dass in Madrid Alarmstufe vier auf einer Skala von 1 bis 5 der Terrorismusabwehr ausgerufen sei und bittet mich, weder Polizei noch deren Fahrzeuge zu fotografieren. Ich nehme es mir zu Herzen. Ein wenig später besteige ich wieder den Zug, diesmal in Richtung Baskenland. Es geht nach Hendaye, wo ich die Nacht verbringen werde. Am darauf folgenden Morgen erwarten mich weitere zwölf Stunden Fahrzeit für die Strecke nach Stuttgart. Nach einem französischen Frühstück fahre ich im TGV durch grüne Landschaften und vorbei an Seen und tiefblauem Meer der Biskaya. Ich verstehe, warum sich so viele Menschen für die französische Route des Pilgerwegs nach Santiago de Compostela entscheiden. In Paris fahre ich mit der Metro von Gare Montparnasse nach Gare d L’est und plötzlich, kurz vor Straßburg, stoppt der ICE. “Wir halten hier auf unbestimmte Zeit, weil es eine Bombendrohung am Bahnhof gegeben hat”, lautete die Durchsage. Nach 20 Minuten wende ich mich an eine neben mir sitzende Dame und frage sie, ob das des Öfteren vorkäme. Mit angestrengtem Lächeln, ihre Besorgnis überspielend, verneint sie. Ich fühle die Nervosität, mit der das Herz Europas schlägt. Gegen zehn Uhr abends in Stuttgart eintreffend komme ich zu dem Schluss, dass die Fahrpreise, die in Frankreich für Interrailverbindungen erhoben werden, mit Abstand die höchsten aller der von mir besuchten Länder sind. In Deutschland, Österreich und der Schweiz genügt es, das Interrail-Ticket vorzuzeigen, um ohne Preisaufschlag und ohne Reservierung reisen zu können.
Bei meiner nächtlichen Ankunft in Stuttgart begebe ich mich sofort zum Auskunftsschalter, um für den nächsten Tag meine Weiterreise nach Schrems, nördlich von Wien, an der tschechischen Grenze gelegen, zu planen. “Die Fahrzeiten ändern sich ständig aufgrund der Lage der Flüchtlinge an der Grenze zu Ungarn”, sagt mir der Beamte. Er teilt seine Sorge mit mir: “Letztendlich ist Europa doch nicht so stark, wie wir dachten!” Bevor ich mich abwende, informiert er mich noch, dass die Bahnhöfe von München und Salzburg aus Sicherheitsgründen geschlossen seien. Stattdessen müsse ich nun weiter nördlich, über Nürnberg fahrend und dann, bis zu meinem Ziel, noch fünfmal umsteigen. Endlich über die österreichische Grenze gelangt, erblicke ich zwei Rehe, die gelassen grasen und dabei den Zug im Auge behalten. Gegen Abend jenes dritten Reisetages erreiche ich Schrems. Ich verbringe fünf Tage in dem kleinen, 3.000 Einwohner zählenden Städtchen und nehme mir genügend Zeit, das Schuhmacher-Zentrum des Landes zu besichtigen. Ich nutze auch die Gelegenheit zu einem Besuch von Wien. Um ein Land kennenzulernen, muss man einfach auch den Rhythmus und die Schönheit der Hauptstädte erlebt haben.
Die erste Etappe meiner Rückfahrt nach Portugal führt mich nach Genf, mit der guten Nachricht, dass der Bahnhof von Salzburg wieder geöffnet sei und ich dieses Mal nur dreimal umsteigen müsse. Beim Halt in Salzburg betreten zwei Polizisten das Abteil und verlangen die Ausweise zu sehen. Einige meiner Mitreisenden haben keine dabei. Es sind dies Flüchtlinge, die aus Irak, Syrien und Afghanistan geflohen und nun auf der Suche nach einem besseren Leben sind. Allein aus meinem Waggon werden sechs Erwachsene und zwei Kinder, das eine davon erst wenige Monate alt, herausgeholt. Sie werden nach draußen geführt. Mit weiteren Flüchtlingen am Ende des Bahnsteiges, handelt es sich um gut zwanzig Personen. Vielleicht wartet dort ein Bus auf sie, der sie in ein Flüchtlingscamp bringt, denke ich mir. Der Zug setzt seine Fahrt fort, und mich erwarten die schönsten Landschaften meiner ganzen Reise, die mich die verstörenden Bilder der angstvollen Gesichter ein wenig vergessen lassen. Ich fahre durch die südlichen Alpen Österreichs und der Schweiz. Nach weiteren vierzehn Stunden gelange ich nach Genf, wo ich übernachte.
Am folgenden Tag erreiche ich Nizza, wo ich einen Tag Rast mache. Eine Stadt gebadet in türkis-blaues Meer, eine harmonische Fusion mediterranen Europas, mit dem Hauch von romanischen und islamischen Einflüssen. Der letzte Halt auf dem Rückweg würde in Barcelona sein. Aber kaum über die spanische Grenze gekommen, verlängert sich der Stopp in Girona aufgrund eines Zugführer-Streiks auf über eine Stunde. “Seit September machen die das jeden Freitag!”, protestiert ein Mitreisender, während andere das Geschehen auf Fotos für spätere Reklamationen festhalten. Durch die verspätete Ankunft in Catalã de Sants verpassen etliche Passagiere ihre Auslandsflüge sowie andere Anschlussverbindungen.
Einige Stunden später, noch in der Morgendämmerung, setze ich meine Reise fort, und nach dem Halt im Bahnhof Atocha in Madrid befinde ich mich auf der letzten Etappe zu meinem Ausgangspunkt Huelva, wo ich am frühen Nachmittag eintreffe. Beim Verlassen des Zuges werden Körper und Sinne von einem warmen Windhauch begrüßt. Gleichzeitig regnet es stark und die Luft ist voll von diesem Duft nach Regen und nassem Land. Ich fühle, wie herrlich es doch sein kann, zeitlos zu reisen, um danach wieder heimzukehren auf die Erde unserer Wahl, Portugal.