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Bolpur,

Alle Tage Indien

2. Folge

Bolpur,Birbhum District -West Bengal
Bolpur,Birbhum District -West Bengal

Schuhekauf und Teamgeist. – Zum Schuhgeschäft sind Kamal (48) und ich am frühen Nachmittag gefahren, bewußt um diese Zeit, weil viele ihr Lunch einnehmen, ausruhen, jedenfalls nicht auf den Straßen fahren. Die Hauptstraße der einst kleinen Stadt Bolpur ist über die Jahre zu einem full-time-Verkehrschaos geworden. Als ich 1980 ankam, gab es nur Fahrräder und Busse auf den Straßen, nur vereinzelt Autos, keine Motorräder, die in Indien noch nicht gebaut wurden. Ich radelte regelmäßig zum Bahnhof, mit Kamal oder Monotosh oder anderen auf dem Gepäckträger. Ich nahm den Zug nach Kalkutta, Kamal nahm das Rad zurück nach Santiniketan, so sparten wir uns die Miete von 50 Cent für eine Riksha.

Heutzutage ist’s zu nervenaufreibend, in Stoßzeiten, also vor und nach der Ankunft von Zügen, mit dem Rad auf der Straße zu fahren. Jetzt wollen Motorradfahrer mit ihren halsbrecherischen Slalomfahrten andere Gefährte austricksen, um eine Minute rascher anzukommen, die enge Straße wird zum Kriegsschauplatz. Sogar Rajen (40), der unruhige Mensch, der stets unterwegs ist, immer Gründe sucht, für gute Zwecke unterwegs zu sein, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, wenn er gebeten wird, mittags oder abends nach Bolpur zu fahren.

Die enge Straße wird zum Kriegsschauplatz.

Das Problem ist, dass der Verkehr zehnfach gestiegen ist, sich das Fahrverhalten aber nicht angepasst hat. Immer noch glaubt man, sich mit einer Fahrweise nach der Devise „Hallo, zuerst komm ich, danach ihr andern!“ durchzumogeln. In der Masse geht es jedoch entsprechend der Schwarmtheorie am schnellsten, wenn man ein Minimum an Teamgeist zeigt. Diese Erkenntnis ist noch nicht angekommen und wird erst beherzigt werden, wenn der Verkehr total stillsteht, stundenlang und nochmal stundenlang. Das vorauszusehen und einzuüben, diese Absicht spüre ich nicht einmal bei den Besonnenen und Verantwortlichen. Die rapide zunehmende Überbevölkerung wird aber ein Umdenken hin zu Teamarbeit erfordern. Erst wenn die Schmerzgrenze erreichbar ist, wird sie möglich sein, denn die indische Mentalität wehrt sich gegen Teamgeist in der Öffentlichkeit. Die Bereitschaft, sich zurückzunehmen und einzugliedern wird im Familienleben erschöpft.

Bolpur,Birbhum District -West Bengal
Bolpur

Kaufe ein Buch! – Ha! Das ist leichter gesagt als getan. Rajen geht zum Buchgeschäft und gibt die Bestellung auf; ein soeben in einem bekannten indischen Verlag erschienenes Buch. Wir müssen es in Kalkutta holen, komm in drei Tagen wieder, heißt es. Jedes Buchgeschäft schickt jemanden einmal in der Woche nach Kalkutta zum Grossisten. Der Besteller ist den ganzen Tag unterwegs. Zentral ist der Verkauf noch nicht organisiert, der Buchhändler nimmt keine telefonischen Bestellungen an, schickt das Buch auch nicht per Kurier. Drei Tage später: Wir hatten doch einen Feiertag! Warte noch ein paar Tage, wir rufen dich an. Nachdem kein Anruf kommt, wechselt Rajen den Buchladen. Damit beginnt die Prozedur von vorn. Schließlich rufen wir einen Freund in Kalkutta an, der die großen Buchgeschäfte abklappert und das Buch kauft und einem Freund, der nach Santiniketan fährt, mitgibt. Wieder hat nur das „parallele System“ mit seinen privaten Beziehungen funktioniert. Nach zwei Wochen ist das Buch bei mir gelandet.

Die rapide zunehmende Überbevölkerung wird aber ein Umdenken hin zu Teamarbeit erfordern.

Wieviel Energie und Zeit könnten gespart werden, wenn der Wille, sich zu organisieren, bestünde. Das würde bedeuten, daß die Menschen ihre so geschätzte Spontaneität aufgeben müssen, sich zurücknähmen, willig wären, strukturiert zu denken und ebenso zu handeln. Die Menschen leben aber von Natur aus in einer Lebensunmittelbarkeit, die einerseits beneidens- und nachahmungswert ist, ihnen anderseits so viele Alltagsprobleme aufbürdet.

Kalos Erfolgsgeschichte. – Ich besuche Kalos Familie in Bhubandanga, einem Armenviertel von Bolpur, das zu Tagores Zeiten noch ein Dorf war. Jetzt ist es halb Dorf, halb städtischer Slum.

Als einfacher Schneider hat Kalo (40) angefangen, er hat nur ein paar Jahre die Schule besucht und dann sein Handwerk gelernt. Dann machte er sich mit einem Schneiderladen selbständig, stellte Lehrlinge ein, beschäftigte Näherinnen, die seine Hemden und Panjabis (Langhemden) und Blusen mit bunten Stickereien verzierten. Saubere Handarbeit, wenig Lohn, die Stickerinnen wohnen in den Dörfern und verdienen sich ein ärmliches Zubrot. Aber die Kunden sind begeistert, Kalo schickte bald seine Produkte nach Kalkutta, er fuhr zu Jahrmärkten bis hin nach Bombay, er, der nur zwei Worte Englisch spricht. Unternehmungsgeist und Mut, mit diesen Gaben hat er sich ein zweistöckiges Haus in Bhubandanga gebaut.

Dieses schmale, aber immerhin zweistöckige Haus hat kleine Zimmer, eher Kammern, ist aus einfachem Material gebaut; enge Treppe, Ausnutzung der Winkel. Man spürt, wie er sparte und rechnete und sparte, aber trotzdem seinen Status als Neubewohner der unteren Mittelschicht dokumentieren wollte. Die Zimmerchen sind unmöbliert: keine Schränke, keine Tische und Stühle, keine Betten, keine Bilder an der Wand und keine Gardienen. Wie in einer Dorfhütte, wie in den Armenvierteln findet alles auf Matten auf dem Fussboden statt: schlafen und essen und sitzen.

Kalo wird nicht das Geld ausgegangen sein, sondern sein Gefühl für Wohnkultur ist zurückgeblieben, also eine gewisse moderne, westliche Orientierung, die sich mit Erziehung und größerem Wohlstand entwickelt. Er merkt nicht den Zwiespalt, in dem er lebt – einerseits seinen Wohlstand dokumentieren zu wollen, aber nicht die „Kinderstube“ und Bildung zu besitzen, diesen Wohlstand nach den praktischen Maßstäben einer „höheren“ Bevölkerungsschicht einzusetzen. Er kennt nicht die Statussymbole dieser Schicht, außerdem empfindet er es als bequemer, auf dem Boden zu sitzen, als auf einem Stuhl.

 

Bolpur
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Vor sechs Monaten hatte Kalo einen tragischen Unfall. Er erlitt einen Schlaganfall und ist seitdem rechtsseitig gelähmt. Zahlreiche Besucher kamen in den ersten Wochen. Seine beiden Söhne Somraj und Mongal brachten ihn zuerst ins Krankenhaus nach Burdwan, dann nach Kalkutta. Als ihn die Ärzte wieder nach Hause schickten, begannen verschiedene Therapien, vor allem kam jeden Tag ein Physiotherapeut vorbei, um mit ihm zu üben. Die Familie hat Geld und setzte alles ein, um Kalo wieder auf die Beine zu bekommen. Beide Söhne waren Studenten, Somraj (24) sogar an der Visva-Bharati-Universität, deren Aufnahmebedingungen relativ streng sind.

Mongal (21) warf das Studium hin und setzte sich an die Nähmaschine und fährt nun wöchentlich nach Kalkutta, um Waren zu verkaufen. Kalos Frau „Somrajer ma“ führt nun das Regiment. Ich spüre, wenn ich sie in ihrem Laden sehe, wie sie ordnet und wägt und bestimmt. Einen klaren Verstand hat sie und setzt sich durch. Vermutlich hat sie auch früher schon, als Kalo gesund war, das Regiment in der Familie geführt, jedoch aus dem Hintergrund. Jetzt muß sie aus dem Schatten treten und vor allen Augen ihre Stimme erheben. Das schafft sie bravourös, während Kalo inmitten des Ladens auf einem Stuhl sitzt und wehleidig und mit schiefem Mund lächelt, die schlaffe rechte Hand mit der anderen umklammernd wie einen toten Fisch.

 

Feiertage. – Die Puja-Zeit* im Oktober ist keine gute Zeit für mich. Alle Menschen in meinem Umkreis sind auf ihre Familien konzentriert. Die Menschen, von denen ich abhängig bin, und das sind viele, entschuldigen sich, sagen „später!“, werden unzuverlässig. Ich kann weder an der Feierstimmung teilnehmen, weil ich mich als Alleinstehender ausgeschlossen fühle, noch kann ich arbeiten, einmal weil mich die Stimmung in meiner Umgebung ablenkt (und melancholisch macht), dann weil niemand mich zuverlässig versorgt. Ich fühle mich sehr allein.

Aber Hrithik (32), der Nachbarjunge, lädt mich zum Mahatsab ** ein. Das ist eine festliche Mittagsmahlzeit, zu der die Großfamilie alle Verwandten, Nachbarn und Freunde zuammentrommelt. Alle müssen kommen, niemand darf fehlen, alle besuchen zuerst die prächtig dekorierte, in laute Farben und Glitzerkram getauchte Göttinnenstatue. Es herrscht reges Treiben, als Kamal und ich auf unseren Rädern eintreffen. Und weil ich Ehrengast bin, begrüßt mich Swapan (55), Hrithiks Vater, mit überschwenglicher Ehrerbietung. Wir werden in ein Extrazimmer geführt, Hrithik und seine beiden Brüder kommen, alle drei über beide Ohren glücklich grinsend. Selbst Hrithik, der Launische und Brütende, ist heute aufgeweckt und hell. Viele Kinder rotten sich zusammen, spielen schreiend und glücklich, heute bekommen sie in allem ihren Willen. Sie sind stark, weil sie zusammen sind. Bei den Erwachsenen gibt es Begrüßungsszenen voll ausladender Herzlichkeit. Die Frauen hocken zusammen. Die jungen Männer rennen großspurig und voll Tatendrang dahin und dorthin, als wollten sie ihr Königreich abstecken. Es sind Szenen, die mir wieder zeigen, warum ich gern in Indien lebe.

Bolpur
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Swapan sagt wieder, was er an diesen besonderen Augenblicken gern sagt: Wie sehr er bedauert, daß aus seinen drei Söhnen „nichts geworden“ sei, obwohl ich, der Fremde, ihnen allen drei einen Weg hatte zeigen wollte und sie zu unterstützen bereit war. Niemand habe meine Vorschläge angenommen, jammert der Vater. Sie waren den drei jungen Männern allesamt zu unbequem. Es dauerte ihnen zu lang, bis ein tolles Gehalt in Aussicht war. Alles war zu sehr mit harter Arbeit verbunden. Statt auf meine Vorschläge vertrauten sie auf Versprechungen von Nachbarn, von Swapans Kollegen, von irgendwelchen guten Onkels. Sie alle wollten den Dreien gut bezahlte Job vermitteln. Nichts ist daraus geworden, nur Ausreden hat es gegeben! Jetzt jobben die jungen Erwachsenen für minimale Gehälter. Hrithik, der Älteste der drei, ist Gärtner im Nachbarhaus. Gras schneiden, Gemüse pflanzen. Es sei ach so viel Arbeit, sagt mir Hrihtik. Ich hatte ihm eine Ausbildung zum Koch angeboten, weil er fürs Kochen richtig begabt ist.

Von Anfang an aber will Hrithik nicht seinen Wert beweisen, um sich dann entsprechend bezahlen zu lassen. Er will „Geld sehen“ und dann arbeiten, als sei er schon jahrelang ein Profi. Er versteht nicht, daß er in einem Heer von Zigtausenden ähnlich ausgebildeter und begabter Jungen nur ein Einziger ist. In der Familie ist er nicht zum Kämpfen erzogen worden, sondern zu einem, dem alles gewährt wird.

*Die Puja-Zeit ist eine Aneinanderreihung von Festtagen, die mit der Durga-Puja (Fest zu Ehren der Göttin Durga) beginnt und mit Kali-Puja (Fest zu Ehren der Göttin Kali) aufhört.
** Mit Mahatsab ist (wörtlich Maha-Utsab = großes Fest) ein Festessen gemeint, an der eine ganze Gruppe (Nachbarschaft, Dorfgemeinde, Berufskollegen usw.) teilnimmt.

About the author

Martin Kämpchen (65) geboren in Boppard, Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft, Philosophie und Romanistik in Saarbrücken, Wien und Paris; Dr.phil in Germanistik in Wien. 1971 ging er als Stipendiat für drei Monate nach Indien. Ab 1973 arbeitete er in Kalkutta als Deutschlektor an einem Spracheninstitut; Zusammenleben mit Mönchen des Ramakrishna-Ordens in Narendrapur südlich von Kalkutta. Seinen zweiten Dr.phil. vollendete er mit einer Arbeit über den “Begriff der Heiligkeit im Hinduismus und Christentum, dargestellt am Leben von Ramakrishna und Franz von Assisi”. Er lebt seit 40 Jahren als freischaffender Schriftsteller, Ãœbersetzer und Journalist in West-Bengalen.

 

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