Samstag, der 11. Januar 2025.
Ein gutes Neues Jahr wünsche ich allen unseren LeserInnen.
Als Gralshüter (oder doch eher Friedhofswärter) der Sprache konnten sich weder die Verlage Deutschlands noch die Verlage Portugals dazu durchringen, den 1902 geborenen italienischen Schriftsteller, Mediziner, Maler und Politiker Carlo Levi einen festen Platz in ihren Literaturprogrammen einzuräumen. Die Furcht vor der politischen Krankheit des Faschismus war und ist immer noch warm und das nicht nur in München. Wollen wir jetzt die Gunst der Stunde nutzen, muss sich da ein Lektor 2024 bei C.H.Beck in der bayerischen Metropole gefragt haben, bevor die Faschisten demnächst wieder die Macht übernehmen in Deutschland und anderswo …
Carlo Levi, der weltberühmt wurde mit seinem autobiografischen Roman „Christus kam nur bis Eboli“ (Erstveröffentlichung 1945) wurde sowohl aus der deutschen als auch aus der portugiesischen Literatur mehr als 60 Jahre lang erfolgreich politisch verbannt. Als hätte es ihn nie gegeben…
Nun, jetzt – im Januar 2025 – steht der Wind günstig – und ich lese das – bereits in der dritten Auflage seit Dezember 2024 – existierende Buch „Die doppelte Nacht“ von Carlo Levi aus dem Jahr 1959, den bereits am 4. Januar 1975 gestorbenen scharfsinnigen Künstler, der letztendlich von Martin Hallmannsecker aus dem Italienischen übersetzt und bei C.H.Beck (textura) in München soeben verlegt wurde. Weder Rowohlt noch Fischer, noch Luchterhand und auch kein Kiepenheuer & Witsch, noch Hanser oder Suhrkamp waren oder sind bereit, über ihre Schatten zu springen, wenn es darum geht, Sprache bewusstseinsbildend in Bezug auf unsere Demokratie zu verlegen.
Bravo! Bei C.H.Beck haben sie es trotzdem spät geschafft, endlich, nach 65 Jahre Wartezeit, nahezu ein ganzes Leben bis zur ersten Übersetzung, ein Buch aus dem Jahr 1959 zu verlegen. Das muß man sich vergegenwärtigen und über sich ergehen lassen mit Gleichmut und Gelassenheit. Vielleicht sogar jetzt tantiemenfrei? Der Journalist, der über dieses Buch diese Rezension verfasst – Ironie der Geschichte – erblickte 1959 selbst das Licht der Glühbirne. Immerhin stammt das Buch nicht aus dem Jahr 1763.* (*siehe Überschrift)
Das neue, endlich in deutscher Sprache aufgelegte Buch, erschien auf Italienisch bereits im Jahr 1959 und handelt von einer Reise durch Deutschland (West) von München über Stuttgart bis Berlin (West und Ost), die Carlo Levi im Winter 1958 unternahm. Es ist ein Reisebericht auf 176 Seiten, eher ein Büchlein, aber sehr reich und divers an Sprache, vor denen sich die Verlage wohl damals eher fürchteten und dann ins Seichte flüchteten. Auch heute gibt es diese Zensur noch immer. Aktuelles Beispiel: Ein Richard Zimler wird in Amerika, in Großbritannien, in Frankreich und in Portugal, sogar in der Türkei, in Schweden und Japan in den jeweiligen Muttersprachen der Länder verlegt, (14 Romane seit 1990) – in Deutschland bekommt der amerikanisch-jüdische Schriftsteller und Journalisten-Dozent an der Universität, der in Porto lebt und auch in Portugiesisch schreibt, keinen seiner Romane in deutscher Sprache verlegt. Das muß man sich einmal vorstellen. Zimler hat mehr als 600.000 Exemplare weltweit verkauft, und in Deutschland bekommt er keinen Fuß in die Tür der Gralshüter (Friedhofswärter) von Sprache und Literatur.
https://en.wikipedia.org/wiki/Richard_Zimler)
Zurück zu Carlo Levi? Es gibt ihn „by the way“ jetzt erst auch in portugiesischer Sprache bei Porto-Editora, aber nur den bereits bekannten Roman mit dem Titel „Christus kam nur bis Eboli“ …
Szenen-, Orts- und Zeitenwechsel: Gagliano, eine kleine Ansammlung von Häusern auf einem Felsen aus weißem Lehm im fernen Sizilien, erschien Carlo Levi an jenem Augustnachmittag des Jahres 1935 wie ein Land an den Toren der Zivilisation, der Geschichte und der Menschheit. „Wir sind keine Christen“, sagen seine Bewohner. „Christus kam nur bis Eboli“. In diese Stadt in der verarmten und abgelegenen Region Lukanien in Süditalien wurde der Arzt, Maler und Schriftsteller verbannt, weil er sich dem faschistischen Regime von Benito Mussolini widersetzte. Während der rund zehn Monate, die er dort verbrachte, dachte Levi über die Landschaft, die Menschen und ihre Resignation vor Armut, Ländlichkeit und dem Fortbestehen der Überzeugungen ihrer Vorfahren nach. Im Jahr 1945 veröffentlichte er das Zeugnis dieser Erfahrung, eine fesselnde Erzählung, in der er Fiktion, Erinnerung, soziologische Aufzeichnung, Essay und Reiseliteratur miteinander verwob.
„Christus kam nur bis Eboli“ gilt als Carlo Levis Meisterwerk, wurde für das Kino adaptiert und in italienischen Schulen bis vor kurzem gelehrt und ist auch heute noch ein wichtiges Porträt dieser historischen Epoche und der Teilung eines Landes in reichen Norden und armen Süden.
Ähnliches geschah auf Levis Reise durch Deutschland im Jahr 1958. Er machte sich auf mit dem Flugzeug über die Alpen von Rom nach München und entdeckte „das Schweigen der Lämmer“ in Deutschland, die Verdrängungen und Verwüstungen der Vergangenheit eines sogenannten 1.000 jährigen Reiches, das doch nur zwölf Jahre andauerte und so viel Leid über die Welt brachte. Er geht in München Weißwürste „fressen“ und Bier trinken, spricht mit Vertriebenen aus dem Osten Deutschlands, die jetzt in den Baracken des Konzentrationslagers Dachau wohnen. Er begegnet der deutschen Geschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart und der Jahre des Wiederaufbaus und erlebt das Schweigen, das Verdrängen des Holocaust. Es ist gerade vier Jahre her, dass Deutschland Fußball-Weltmeister in der Schweiz wurde: das sogenannte Wunder von Bern. Man gehört wieder dazu zur Gemeinschaft der Länder. Levi, selbst jüdischer Abstammung, betrachtet sensibel die Stille, das Schweigen, das Prahlen des Wirtschaftswunders und den Widerstand, sich der Verantwortung für die Gaskammern zu stellen, man habe ja selbst von nichts gewusst. Für einen Italiener musste eine Reise durch Deutschland im Jahr 1958 nicht allein ein gastronomisches Desaster gewesen sein…
Sein Reisebericht, der übrigens keine Anklage ist, ist eher ein schlaues Dokument der Zeitgeschichte, denn wo kein Kläger, da ist kein Richter. Deutschland, du armseliges Mutterland, 1958 noch fast ohne Männer – und wenn doch, dann kriegsversehrte und Greise… Du hast nichts dazugelernt in diesen vielen Jahren, die Du Zeit hattest, mutig zu werden. Denn ein Trauma überwindet man nur, indem man sich ihm stellt. Das kostet Schmerzen, kostet Zeit, benötigt Mut, Kraft und Konzentration auf das Wesentliche. Nicht Verdrängung, sondern sich den Qualen der Reflektion in Demut stellen, hilft weiter. Nie wieder Faschismus?! Wer es glaubt, wird selig. Dies gilt besonders auch für die Gralshüter der Sprache.