Man trifft nicht jeden Tag den Herrn Minister, wenn man nicht selbst in der Hauptstadt weilt und selbst dann weilt der Herr Minister nicht jeden Tag selbst in der Hauptstadt. Oft reist er durch das Land, manchmal sogar bis ins Ausland. Gegen Mittag wurde er erwartet, zu einem Mittagessen der Unternehmer der portugiesisch-ausländischen Industrie- und Handelskammern. Man zahlte fünfzig Euro Eintritt und die Mehrwertsteuer oben drauf und wartete gern auf den Herrn Minister. Manchmal wartet man ein ganzes Leben auf irgendwas, oft weiß man nicht warum, fast immer ohne ersichtlichen Grund. Warten gehört wie die Sonne zu Portugal. Ein Uhr passierte und auch das akademische Viertelstündchen und dann irgendwann fuhr eine schwarze Limousine am Portal des großen Hotels vor.
Ein Türsteher öffnete und der Herr Minister stieg aus, schüttelte ein paar Hände, klopfte einigen Herren auf die Schultern, umarmte ein paar Parteifreunde und lächelte gequält. Etwas müde sah er bereits aus, kam von einer Einweihung und wollte zur nächsten, nach dem Essen. Er schwitzte ein wenig und Anzug und Krawatte saßen schlecht. Ein Getriebener ging durch die Tür und der Journalist stoppte ihn mit einem Mikrofon. Herr Minister, erlauben sie eine kurze Frage? Der eilige Minister erlaubte. Welchen konkreten Wert hat das Konzept der Nachhaltigkeit in ihrer Politik?
Dem Herrn Minister kam die Frage nicht wirklich gelegen. Was meinen sie mit Nachhaltigkeit, gab er die Frage zurück? Nachhaltigkeit in der Umwelt-, in der Finanz- oder in der Sozialpolitik? Eigentlich ist doch unsere gesamte Politik des letzten Jahres nachhaltig. Geben sie unseren Lesern ein Beispiel, bat der Journalist. Jetzt nicht, jetzt wollen wir doch erst einmal essen gehen, sagte der Herr Minister. So begann er nach der Vorspeise mit seinem Vortrag über jenes letzte Jahr, in dem er der Herr zum Minister ernannt wurde. Zur gleichen Zeit würgte der Journalist an einem kleinen Stückchen Stockfisch mit bitterem Kohl. Der Koch des Hotels hatte vermutlich eine Vorahnung von der Wichtigkeit seiner Kreation gehabt. In jede Portion legte er einen Schuss wahren Ausdrucks der Situation des Landes. Nur so verstand sich der seltsame Geschmack der Hauptspeise, die in den kleinlichen und geschönten Zahlen des portugiesischen Wirtschaftswachstums unterging, das der Herr Minister referierte. Er schloss seine Rede mit den Worten Machen wir unser Land zu einem Platz für Freunde, die investieren wollen. (Vamos fazer Portugal um paÃs amigo do investimento.)
Der Casual Friday begann in der Familie des Journalisten immer bereits am Montag. Die Kleiderordnung derjenigen, die sich fälschlicherweise für die Elite des Landes hielten, hatte hingegen viel gemein mit einer Beerdigungsszene aus einem Film des alten Manoel de Oliveira. So erklärte der Journalist, warum er nicht in Anzug und Krawatte zum Mittagessen erscheinen konnte. Die Portugiesen sind ein leidensfähiges Volk, kommentierte ein neben ihm sitzender Unternehmer, der die oligarche Wirtschaft Portugals gut kannte. Seit 50 Jahren schaue er sich diesen Zirkus bereits an. Auch der Journalist hatte ein kleines Jubiläum zu feiern. Ein Vierteljahrhundert hatte er die Ehre, portugiesische Politiker aus nächster Nähe kennenzulernen. Manchmal sprach er mit ihnen, aber lieber betrachtete er sie aus der nahen Distanz, wie bei einem Besuch in Sete Rios. Er versuchte herauszubekommen, was genau sie steuerte und trieb, Alfatier im politischen Käfig zu werden; was sie motivierte, ins Zentrum der Macht zu gelangen? Und was machten sie dann? Dabei stellte er sich auch die Frage, was einen Bierbrauer zum Wirtschaftsminister qualifizierte?
Manchmal wartet man ein ganzes Leben auf irgendwas, oft weiß man nicht warum, fast immer ohne ersichtlichen Grund.
Die berufliche, wirtschaftliche und politische Geisteshaltung des Herrn Ministers verrät sein Studium. Er machte einen Doktor an der spanisch-katholischen Opus Dei Universität von Navarra. Danach leitete er über Jahre eine bekannte Brauerei. Die Politik seiner Regierung war geprägt von Ausgabenkürzungen im öffentlichen Dienst, von Steuererhöhungen, Verkauf von Staatsfirmen, Verbilligung von Arbeit und Lockerung des Kündigungsschutzes und von horrenden Mautgebühren auf Autobahnen, die in Europa Ihresgleichen suchten. Arbeiter, die noch einen Job hatten, mussten hinnehmen, dass ihnen vier Urlaubstage gestrichen wurden und arbeiteten ohne Lohnausgleich täglich 30 Minuten länger. Unternehmer wurden von der Bürokratie mit immer neuen Direktiven bis an die Grenzen der Lebensfähigkeit stranguliert. In einem Land, in dem 16 Prozent aller Erwerbstätigen arbeitslos waren, führte diese Politik zuerst in eine Einbahnstraße, die viele Menschen immer mehr als Sackgasse wahrnahmen. Portugals gut ausgebildete Jugend verließ zu zehntausenden das Land, weil fast jeder Dritte arbeitslos war. Die Zahl der Hungernden stieg und der nächste Sommer mit seinen klimatisch bedingten Waldbränden stand vor der Tür. Über die Korruption wollte er lieber keine Fragen stellen.
Aber der Journalist hob noch einmal seinen Arm. Er ordnete seine Gedanken zu einigen Fragen. Herr Minister, was halten sie davon, die Kraft der Wirtschaft an die Zufriedenheit seiner Bürger zu koppeln? Wie gedenken sie die Wirtschaftskraft Portugals dadurch zu stärken, das sie das Land unabhängiger von fossilen Rohstoffen machen? Wenn sie in die Zukunft blicken, welche Perspektive haben sie, wenn wir einmal vom Ausgaben sparen und Steuern erhöhen absehen? Doch der Terminkalender des Herrn Ministers war für die Antworten auf diese Fragen viel zu eng. Auch ließ der Referent des Ministers dem Journalisten ausrichten, dass die Worte des Herrn Ministers nicht veröffentlicht werden sollten. In einer Epoche in der Geld und Zeit alles und nichts bedeutete und weder vom einen noch vom anderen genug vorhanden war, übernahm jede Regierung nur die Lasten ihrer Vorgänger mit rückwärtsgewandter Perspektive. In einer Welt aber, in der kreative zukunftsweisende Visionen mit Konzepten und Technologien für ein nachhaltiges, besser aufgestelltes Land noch keinen Platz hatten, interessierte auch die Medien nur die Rückkehr des Landes an die Finanzmärkte.
Uwe Heitkamp (54) lebt seit 25 Jahren in Portugal als Journalist, Filmemacher und Buchautor. Er lebt von ökologischer Landwirtschaft, der Produktion und dem Verkauf von Solarstrom und wandert für sein Leben gern. Für die Kurzgeschichte „Der Herr Minister“ reiste er von Monchique nach Lissabon und zurück und emittierte dabei 4,49 kg CO2 mit dem AP und 3,93 kg CO2 mit dem IC, sowie 13,2 kg CO2 Zubringerfahrten mit dem eigenen KFZ und dem Taxi. (Total: 21,62 kg CO2)