Die Dorfgemeinschaften im Alentejo, all die menschlichen Biotope aus Fürsorge, Austausch und gegenseitiger Verantwortung, aus Gastfreundschaft, kollektiver Erinnerung und Miteinander sind noch nicht am Ende. Konsumenten wollen wissen, wer ihr Essen produziert. Jugendliche sehnen sich nach dem Verständnis der Großeltern. In Stadtvierteln und Dörfern wollen Bewohner sich selbst verwalten. Liebespaare und junge Familien brauchen um sich herum Gesprächspartner, reale Unterstützung, Gemeinschaft. Vielleicht sind es gerade die Alten, die dabei helfen können. Ein Einblick in alentejanische Dörfer und ihre Suche nach Auferstehung.
Die Dorfgemeinschaften im Alentejo neu erfinden
Wer wahre Liebe erleben will, sollte nach Valle Touriz in die Gemeinde Sabóia im Landkreis Odemira fahren und Maria Constância besuchen. Den meisten Menschen reicht sie gerade mal bis an die Brust, und ihr Gesicht unter dem Kopftuch ist verschrumpelt wie eine getrocknete Feige. Doch ihre Augen strahlen, ihre Hände streicheln die des Gegenübers so unablässig und warm, dass selbst der größte Schurke das Gefühl erhält, geliebt zu werden. Wenn man dann noch ihren Walnusskuchen lobt, versprüht jede Zelle der 87jährigen pure Freude.
Maria Constância ist die ideale Oma – doch eine Oma ohne Enkel. Ohne Enkel, ohne Gesprächspartner, ohne Nachbarn oder andere Menschen, für die sie da sein könnte oder die für sie da sind: Sie lebt allein auf ihrem Gehöft. Ihre Kinder sind weggezogen, der Mann gestorben. Ihr nächster Nachbar lebt 4 km entfernt und ist selbst über 80. Moderne Errungenschaften wie Strom, fließendes Wasser, Heizung oder eine Toilette gibt es in ihrem Haus nicht, dafür laufen Hühner und eine Ziege über die Schwellen. Im Weiler Valle Touriz, der früher bekannt war für seine stürmischen Tanzfeste, ist es heute still geworden. Zu still. Wer da nicht depressiv wird, muss eine sehr robuste Natur haben. So wie Maria Constância geht es 80 % alten Menschen in den Weiten des Alentejo.
“Die medizinische Versorgung der alten Leute auf dem Land ist unzuverlässig bis katastrophal”, erzählt der Psychologe Fábio Medina. “Mit 200 Euro Rente sind die meisten von ihnen bitterarm. Aber das Schlimmste ist die Vereinsamung.”
Und so kommt es, dass diese Bilderbuch-Landschaft mit ihren sanften Hügeln, ihren weit verstreuten, winzigen Höfen und weiß getünchten Lehmhäusern, ihren alten Ziehbrunnen, Ziegenherden und Korkeichenwäldchen stirbt, und zwar wörtlich: Sabóia ist die Gemeinde mit der höchsten Selbstmordrate Europas.
“Deshalb sind wir hier”, sagt Fábio, der mit seiner Kollegin Tania regelmäßig die Senioren besucht. “Wir wurden eingestellt, um herauszufinden, was man tun kann, um den Lebenswillen der alten Menschen wieder zu entfachen.”
Fábio und Tania organisieren die medizinische Versorgung, sie helfen ihnen, eine höhere Rente zu beantragen, richten Treffpunkte ein, wo sie gemeinsam Handarbeiten ausüben, sich austauschen und feiern können, fahren sie hin und holen sie ab.
Fábio: “Das alles ist gut – aber doch auch viel zu wenig. Was die Menschen eigentlich brauchen, ist dasselbe, was die Region generell braucht: junge Menschen, die hier wieder leben und ihre Kraft einbringen. Ich gründe meine Hoffnung darauf, dass angesichts der Krise junge Menschen aus den Städten aufs Land zurück kommen und es wieder beleben.”
Relíquias – Kooperative sucht Nachwuchs
Zur gleichen Schlussfolgerung kommt Daniel Balinhas, seit 17 Jahren Leiter der Kooperative von Reliquias, einer Gemeinde etwa 50 km nördlich von Sabóia. Seit der letzten Kommunalwahl ist er auch deren Bürgermeister. Der Laden der Kooperative und ihre kleine Bar sind immer noch Herz, Seele und öffentliches Wohnzimmer der Dorfgemeinschaft. Hier trifft man sich auch nach Ladenschluss auf einen Wein oder einen Kaffee und tauscht sich aus. Man kennt sich – seit Jahrzehnten. Man feiert einträchtig Dorffeste – sei es zu Maria Himmelfahrt oder zum Jahrestag der Revolution – und versorgt gemeinsam bedürftige Nachbarn. Nur: regionale Produkte, einst Sinn und Zweck der Kooperativen, gibt es hier nicht mehr. Daniel: “Die Kooperative wurde nach der Revolution von den Einwohnern gegründet, um uns gegenseitig günstig und gerecht zu versorgen sowie als Umschlagplatz für Produkte aus Landwirtschaft und Handwerk.”
Seit den 90ern haben die Gesetze die Arbeit der Kooperativen systematisch erschwert. Steuerlich sind sie heute den Supermärkten gleichgestellt, mit denen sie ökonomisch aber nicht mithalten können. Die Genossenschaftsmitglieder sind größtenteils zu alt, um auf ihren Höfe noch Überschüsse zu erwirtschaften. Was geschieht, wenn auch diese Generation einmal nicht mehr ist? Wird ihr Land dann auch – wie an so vielen Orten im weiteren Umland – von internationalen Agrarfirmen aufgekauft und in Monokultur-Anbauflächen umgewandelt? In Bewässerungsolivenanbau, in Eukalyptus- oder Pinienwüsten?
Daniel möchte dies verhindern. Er hofft auf die positive Seite der Krise: “Das Leben in den Städten wird für viele junge Leute immer schwieriger. Sie werden zurückkommen, da bin ich mir sicher. Und wir, die wir hier geblieben sind, haben die Pflicht, sie in ihrer Unerfahrenheit aufzunehmen und ihnen zu helfen.”
Dass sich in Relíquias und Umgebung mehrere Kommunen und alternative Gemeinschaften angesiedelt haben, findet er eine Bereicherung. Regionale Autonomie durch Dezentralisierung – das hält er nicht für unmöglich – denn er hat gesehen, dass so etwas funktionieren kann: bei seiner Großmutter. Als Kind begleitet er Tia Inácia oft, wenn sie mit einem Eselskarren durch die Dörfer zog und anbot, was Menschen brauchten – Eier, Scheren und neue Hosen. Kunden bezahlten mit dem, was sie übrig hatten: Käse, Brot oder Honig. So wuchs ihre Produktpalette. “Tia Inacia dos ovos” – Tante Emma der Eier – das war ein System, das nun in die Moderne übersetzt werden muss, um die Attacken der Globalisierung abzuwehren.
Die ökonomische Krise könnte diesem Vorhaben entgegen kommen. Seitdem die Job- und Karrierechancen für junge Menschen in Portugal schneller schmelzen als Ziegenkäse in der lusitanischen Sonne, verzeichnet das Land die höchste Auswanderungsrate seit 1969. Doch einige junge, gut ausgebildete Menschen zieht es aufs Land. Und so bekommen die Alentejaner neue Nachbarn: Studenten oder Akademiker, Arbeitslose oder Neu-Bauern, Hippies oder Jungunternehmer.
São Luis – Dorf im Übergang
Pedro und Elise Holton zogen zum Beispiel vor einigen Jahren als junges Paar aus Lissabon nach S. Luis. Es war also sozusagen eine Heimkehr ins Dorf der Großeltern. Sie übernahmen den Landhandel, bieten Ökotourismus-Touren zu Handwerkern und Bauernhöfen an und vertreiben traditionelle Produkte: Hirtenkunst aus Olivenholz und Kork, handgeschöpfte Seife, Keramik, gewebte und bestickte Decken, Kork-Designerware.
Elise: “Wenn man aufs Land zieht, kommt dir anfangs alles ideal vor – die Natur, die Stille, die frische Luft. Doch nach zwei, drei Jahren merkt man, dass man zuwenig Gesprächspartner hat. Es gibt eine Dorfgemeinscahft, man gehört aber nicht dazu. Da muss man sich etwas einfallen lassen.”
Eine gemeinsame Idee verbindet heute Neuankömmlinge und Alteingesessenen. Carmen und Sergio Maraschin, eine Biologin und ein Geologe, zogen vor fünf Jahren aus Totnes, England, hierher und brachten die Idee der Transition Town mit. Sie gründeten São Luis em Transição.
Carmen: “Was ist denn nach Peak Oil, wenn die Supermärkte leer sind? Wer kümmert sich um dich? Nicht deine internationalen Freunde, sondern deine Nachbarn. Wir müssen weltweit wieder Nachbarschaften aufbauen.”
Es entstanden ein Tauschmarkt für lokale Produkte, ein wöchentliches Kino mit Filmen über Nachhaltigkeit – und dank einer gelungenen Kampagne hat das Dach der Gemeindeverwaltung nun eine Photovoltaikanlage.
Sergio: “Das war nur möglich, weil Einheimische und Neuankömmlinge zusammen arbeiteten.” Gemeinsam mit der Gemeinde Relíquias gewannen sie 2012 den zweiten Platz im jährlichen Wettbewerb des Bürgerhaushaltes von Odemira – und gingen damit den ersten Schritt für die Verwirklichung einer Energieautonomie.
Aldeia Amoreiras: Kultur des Schenkens
Amoreiras ist ein Dorf wie aus dem Bilderbuch: weiße, dicht aneinander gedrängte Häuser mit Türmchen, gepflegten Gärten und Leben auf der Straße. Ein Schmied schweißt das Rad einer Landmaschine, ältere Frauen halten ein Schwätzchen, ein Laden ist geöffnet, Kinder toben auf einem Spielplatz. Wie kommt das?
2005 gründete eine kleine Gruppe von Studenten aus Lissabon “Aldeia Amoreiras Sustentável” (nachhaltiges Amoreiras). Sie fragten die Bewohner nach ihrem Traum und ihren Wünschen – und versuchten diese zu realisieren. Nummern an den Häusern, Dorffeste, Sprachkurse, ein Spielplatz – aber vor allem ihre Präsenz der Jugend schuf einen Attraktionspunkt. Heute sind 20 % der Dorfbevölkerung unter 30 Jahren – das ist viel.
Monica hat sich mit ihrer kleinen Tochter und ihrem Lebensgefährten João erfolgreich in die Dorfgemeinschaft integriert. João hilft bei alten Bauern aus und bringt ihnen auch mal ein Werkzeug aus der Stadt mit. Monica schaut nach den alten Leuten in der Nachbarschaft und hilft, wo sie kann. Dafür finden sie regelmäßig Selbstgebackenes, Eingemachtes oder Gemüse vor der Haustür. Monica: “Wir haben uns gegenseitig adoptiert. Seit einem halben Jahr haben wir keine frischen Lebensmittel mehr eingekauft.”
João stammt aus einem Dorf im Norden, ländliche Bräuche sind ihm vertraut. “Gleich nach unserem Einzug brachten die ersten Nachbarn uns Geschenke: Marmelade, Kuchen und Obst. Das sind nicht nur Höflichkeitsgeschenke. Gegenseitige Geschenke waren Teil der traditionellen dörflichen Wirtschaftsweise. Wenn man teilnehmen will, überlegt man sich Gegengeschenke – und wird Teil einer subversiven, geldfreien Subsistenz-Gemeinschaft. Wenn nicht, bleibt man Gast im Dorf.” Darauf, so denken manche Pioniere alternativer Geldsysteme, könnte man doch aufbauen.
Experten ohne Schulbildung
Einer der Nachbarn ist der verschmitzte António de Rosa, 83. In seinem Garten gedeihen Tomaten, Paprika, Süßkartoffeln, Karotten und Kohl im Schatten von Apfel- und Kakibäumen. Verwunschene Vielfalt. Zwei Säue fressen überreife Kakis, die António von den Bäumen schlägt.
Wer hätte diese Vielfalt in der kargen Landschaft für möglich gehalten! Gedüngt wird nur mit Mist und Kompost, und zwar seitdem er als Kind den Garten von den Eltern übernahm. Stolz zeigt er Mini-Kakis, süße Gurken und robuste Süßkartoffeln, alles Eigenzüchtungen. Sein Sohn Jorge, ein wortkarger, in sich gekehrter Mann um die 40, pflügt mit Pferd und Esel den Acker. Von ferne hören wir seine musikalischen Rufe.
Ohne je eine Schule besucht zu haben, ist António ein gefragter Experte weit über sein Dorf hinaus. Wann immer im näheren oder weiteren Umfeld ein Schwein krank ist oder eine neue Obstart gepflanzt werden soll, dann holt man ihn. “Eine Bezahlung erhalte ich dafür nicht, aber ein Mittagessen, und ich komme auf diese Weise in der Region herum.”
Der ganze Alentejo könnte so erblühen wie Antónios Garten, wenn wir das Wissen dieser Menschen aufgreifen.
Maria Constância aus Valle Touriz strahlt wieder. Heute, so wie jeden zweiten und letzten Mittwoch laden Fábio und Tania die alten Leute der Gemeinde ein. Es wird gegrillt, getrunken, gesungen und getratscht – fast wie früher. Auch die fremden Besucher werden umstandslos geherzt und umarmt, obwohl sie ein merkwürdiges Portugiesisch sprechen und statt „Porco“ und „Frango“ Gemüse und Mais auf den Grill legen. Warum auch nicht? Jeder wie ihm beliebt, Hauptsache, sie greifen bei Kuchen und Wein zu.
António, Maria Constância und all die anderen alten Menschen haben noch viel zu geben. So wie ein Mutterwald hilft, dass neue Schösslinge keimen, so können sie mithelfen, dass neue Dorfgemeinschaften wachsen. Enkel sind willkommen, auch von fremden Eltern.