Samstag, der 1. Januar 2022.
Bereits 1883, lange noch vor der Gründung der Europäischen Union, verband ein Zug Frankreich, Deutschland, Österreich, Jugoslawien mit der Türkei, der Orient-Express. Seine Passagiere legten in drei Tagen rund 3.000 Kilometer zurück: von Paris über Wien und Budapest bis nach Varna, später auch von den Alpen über Venedig bis zur Donau und ins Pulverfass Balkan. Er galt als Zug der Könige, Diplomaten, Schriftsteller und anderer legendärer Passagiere wie Mata Hari, Josephine Baker, Marlene Dietrich und Agatha Christie, die sich an Bord zu ihrem „Mord im Orient-Express“ inspirieren ließ. Mit seinen Schlaf- und Speisewägen bot er einen für damalige Verhältnisse völlig neuartigen Luxus. Von der Einweihungsfahrt 1883 bis zum Ende der Strecke Paris-Istanbul 1977 war der Orient-Express ein prunkvoller und ruhmreicher Zug. Doch er erlebte auch Verfall, Revolutionen und Kriege. Als einziger Zug, der den Eisernen Vorhang durchqueren durfte, wurde er während des Kalten Kriegs zum Transportmittel der Arbeiter und Immigranten. Die Fernseh-Dokumentation „Der Orient-Express – Vintage auf Schienen“ zu sehen auf https://www.arte.tv/de/videos/077320-000-A/der-orient-express/ blickt auf mehr als ein Jahrhundert Eisenbahn-Abenteuer zurück und stützt sich dabei auf Erkenntnisse und Berichte von Historikern, Eisenbahn-Restauratoren und -Sammlern. Der Historiker für industrielles Kulturerbe Arthur Mettetal zeigt nicht nur die Hinterlassenschaften dieses Luxuszuges in Europa, sondern auch Restaurationswerkstätten und 13 ungewöhnliche Waggons, die an der Grenze zwischen Polen und Weißrussland geparkt und einfach aufgegeben wurden. Die eurpäischen Fernsehsender ARTE und BBC France schicken ihre ZuschauerInnen in deutscher und in französischer Sprache auf eine grenzüberschreitende Reise zwischen Mythos und Realität. Warum ist das, was vor knapp 150 Jahren seinen erfolgreichen Lauf nahm, heute so furchtbar schwer in einem Europa ohne Grenzen umzusetzen?
Wie steht die EU zu einer Verkehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene?
Vor dem Start des Europäischen Green Deal im Jahr 2019 hat die Europäische Kommission 2019 eine Mitteilung mit dem Titel „Ein sauberer Planet für alle“ erstellt. Darin wurde die Schiene als die energieeffizienteste Lösung für den Güterverkehr über mittlere und lange Strecken bezeichnet. Die Kommission verkündete damals, dass das Transeuropäische Kernnetz für den Schienenverkehr (TEN-V) bis 2030 fertiggestellt sein soll. Dies steht im Einklang mit der Forderung des Green Deal, die Verkehrsemissionen bis 2050 um 90 Prozent zu reduzieren, um die Klimaziele zu erreichen.
In diesem Sinne hat die EU-Kommission die Bahn als nachhaltige Alternative zum Straßen- und Luftverkehr für Touristen, Pendler und Frachtverkehr gefördert. Die EU-Kommission hatte das Jahr 2021 zum „Jahr der Schiene“ erklärt. Dafür ließ sie auch einen PR-Zug, den „Europa-Express“ fuhr vom 2. September bis zum 7. Oktober kreuz und quer durch den Kontinent fahren. Es wird viel mehr in den Bahnverkehr investiert als früher. Dennoch wird das europäische Schienennetz in vielen Bereichen seit langem vernachlässigt. Das Fernverkehrsnetz ist ein gutes Beispiel dafür: Es gibt nur sehr wenige aufeinander abgestimmte Fahrpläne, und die Züge halten oft an den Landesgrenzen, ohne dass es einen grenzüberschreitenden Nutzen gibt.
Was tut die EU eigentlich für den Schienenverkehr?
Obwohl das Mantra in Brüssel seit den 1990er Jahren lautet: „Von der Straße auf die Schiene“, hat die EU-Politik dem Straßen- und Luftverkehrssektor Vorrang eingeräumt. Auch wenn die Investitionen in den Eisenbahnsektor zunehmen, werden die Infrastrukturdefizite und Instandhaltungslücken nicht schnell genug geschlossen. In einigen Fällen (z. B. auf dem Peloponnes in Griechenland) haben großzügige Investitionen in Autobahnen das bestehende Schienennetz lahmgelegt und die Chancen auf dessen Wiederbelebung zunichte gemacht, weil die Verkehrsnachfrage nicht ausreicht, um beide zu unterstützen.
In den letzten Jahren hat die EU vier Eisenbahnpakete verabschiedet, die nach Angaben der Kommission darauf abzielen, den Eisenbahnmarkt für den Wettbewerb zu öffnen, die Interoperabilität der nationalen Eisenbahnsysteme zu verbessern und den Rahmen für einen einheitlichen europäischen Eisenbahnraum (SERA) festzulegen. Dazu gehören Anforderungen wie die Trennung von Betrieb und Schiene (getrennte Verwaltung von Eisenbahninfrastruktur und -diensten). Das vierte Eisenbahnpaket trat 2021 in Kraft, doch seine Umsetzung verlief uneinheitlich, da sich die Mitgliedstaaten für unterschiedliche Vorgehensweisen entschieden haben.
Darüber hinaus verhindert die EU auch mit ihrer Steuerpolitik, dass die Schiene eine wirkliche Alternative zum Straßen- und Luftverkehr wird. In Europa müssen Luftverkehrskonzerne keine oder nur sehr geringe Steuern zahlen. So werden in vielen europäischen Staaten keine Steuern auf Flugbenzin erhoben. Zudem wird auf Flugtickets keine Mehrwertsteuer erhoben. Ähnliches gilt nicht für den Bahnverkehr. Hier wird für viele grenzüberschreitende Verbindungen nach wie vor Mehrwertsteuer fällig.
Im Gespräch mit Investigate Europe sagte EU-Verkehrskommissarin Adina Vălean, es sei nicht Aufgabe der EU, grenzüberschreitende Bahnverbindungen mit einer „gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung“ für Länder oder Unternehmen zu unterstützen. „Grenzüberschreitende Eisenbahnen brauchen mehr Zusammenarbeit zwischen benachbarten Mitgliedsstaaten, aber wir können sie nicht verpflichten, etwas zu subventionieren, das wirtschaftlich nicht tragfähig ist“, sagte sie.
Sind die einzelnen Mitgliedstaaten für den derzeitigen Zustand des grenzüberschreitenden Schienenverkehrs verantwortlich?
Teilweise. Der Schienenverkehr in Europa war einst Aufgabe des Staates. Die staatlichen Bahnen mussten keinen Gewinn machen, aber sie mussten die Versorgung sicherstellen. Das änderte sich in den 1990er Jahren. Angetrieben von der Überzeugung, dass der Wettbewerb das ansonsten unterfinanzierte Eisenbahnsystem wiederbeleben würde, sollten die EU-Mitgliedstaaten den Privatisierungsprozess einleiten und versuchen, die Eisenbahninfrastruktur und ihren Betrieb zu trennen. Während die kleineren Länder im Süden und Norden die vollständige Trennung vollzogen, schufen die größeren Länder wie Deutschland und Frankreich Holdinggesellschaften, die Bahnbetrieb und Infrastrukturbetrieb noch immer unter derselben Dachgesellschaft vereinen. Mit dem neuen Fokus auf Gewinne wurden viele weniger profitable Strecken eingestellt, darunter Regionalstrecken in Frankreich, Portugal, oder grenzüberschreitende Nachtzüge in Deutschland.
Europa baut seit Jahrzehnten ein gemeinsames Verkehrsinfrastrukturnetz (TEN-V) auf. Der Ausbau des Schienenverkehrs ist dabei besonders kostspielig – er beläuft sich auf mindestens 500 Milliarden Euro. Nur ein Bruchteil dieser Investitionen wird von der EU bezahlt, der Rest muss von den Mitgliedstaaten selbst aufgebracht werden. Und gerade wenn es um grenzüberschreitende Investitionen geht, sind die Mitgliedstaaten zurückhaltend und konzentrieren sich aus politischen und wirtschaftlichen Gründen auf den Ausbau des nationalen Netzes. Es scheint, dass die Mitgliedstaaten nicht bereit sind, Geld für etwas auszugeben, das nicht speziell in ihrem nationalen Interesse liegt, und die EU tut wenig, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Adina Valean, die derzeitige EU-Verkehrskommissarin, erklärte gegenüber Investigate Europe: „Wenn etwas wirtschaftlich nicht rentabel ist, können wir [die EU] es nicht erzwingen“.
Einige Experten, mit denen Investigate Europe gesprochen hat, weisen auch darauf hin, dass ein Grund für die Zersplitterung die militärische Sicherheit und die nachwirkenden Erinnerungen an zwei Weltkriege sind. Der Truppentransport ist auf der Schiene am effektivsten, so dass die Eisenbahn eine strategische Infrastruktur ist, die die Staaten auf nationaler Ebene kontrollieren wollen.
Warum gibt es nicht mehr durchgehende Bahnverbindungen zwischen europäischen Ländern?
Selbst wenn der politische Wille für einen durchgehenden grenzüberschreitenden Verkehr vorhanden wäre, gibt es viele betriebliche und technische Herausforderungen. Dazu gehören die streckenseitige Interoperabilität, das Fehlen standardisierter Elektrifizierungs- und Signalsysteme, spezifische Vorschriften für einige Mitgliedstaaten und sogar Sprachbarrieren (Lokführer müssen die Sprache(n) des Landes, durch das sie fahren, mindestens auf B1-Niveau beherrschen).
Ein wesentliches Hindernis für den einheitlichen europäischen Eisenbahnraum ist die schleppende Umsetzung des Europäischen Eisenbahnverkehrsleitsystems (ERTMS), eines einheitlichen Sicherheitsüberwachungssystems, das die Geschwindigkeit der einzelnen Züge anhand von Strecken- und Zugdaten kontinuierlich überwacht. Es hat das Potenzial, zu einem besseren Verkehrsmanagement und damit zu einer höheren Kapazität auf denselben Gleisen zu führen. Bislang hat sich das Projekt jedoch erheblich verzögert. Wie Josef Doppelbauer, Leiter der ERA, in einem Interview mit Investigate Europe erklärt, „benötigt ein Eurostar-Zug, der vom Vereinigten Königreich aus von London über Frankreich und Belgien in die Niederlande und nach Amsterdam fährt, derzeit neun verschiedene Zugsicherungssysteme.“
Gerade in den letzten Jahren haben die polnischen Eisenbahnen Lokomotiven gekauft, die nicht in den Nachbarländern fahren können; die Dänen haben Lokomotiven gekauft, die nur in Dänemark und Deutschland auf die Schienen gesetzt werden können, so dass, als die Schweden ankündigten, einen Zug von Stockholm nach Deutschland fahren zu wollen, die Dänen sagten, sie könnten nicht helfen, also gab es keine Züge. Und die neue ICE-4-Flotte der Deutschen Bahn, die von Berlin aus fährt, hat nur ein Stromversorgungssystem, mit dem die Züge nur in Österreich, Deutschland und der Schweiz fahren können und nirgendwo sonst.
Und was hat die Privatisierung des Bahnsektors damit zu tun?
In den 1990er Jahren waren die europäischen Eisenbahnen in staatlichem Besitz, aber mit der Zeit und der zunehmenden Konkurrenz durch andere Verkehrsträger (Autos, Lastwagen, Fluggesellschaften) wurde klar, dass das Eisenbahnsystem im Niedergang begriffen war. Ein Diplomat schrieb 1999 in Politico: „Die Eisenbahnen werden auf die gleiche Weise verwaltet, wie die Sowjetunion alles verwaltet hat. Die Kommission will einen Binnenmarkt für den Schienenverkehr schaffen und die Eisenbahnen als Privatunternehmen betreiben.“
Vor diesem Hintergrund entwickelte sich ein Geist der Liberalisierung. Mit ihren Eisenbahnpaketen (insgesamt vier) versuchte die EU, privaten Unternehmen den Markteintritt zu erleichtern. Das erste Paket verlangte die Aufteilung der Eisenbahnunternehmen, so dass Betrieb und Infrastruktur getrennt behandelt wurden. Der Gedanke dahinter war, dass der Wettbewerb das Wachstum der Bahnindustrie fördern und zu besseren Dienstleistungen führen würde, aber die Umsetzung war lückenhaft.
Benedikt Weibel, Chef der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) von 1993 bis 2006, weist darauf hin: „Einer der großen Fehler war, dass die Europäische Kommission für jeden Sektor das gleiche Rezept hatte: Energie, Fluggesellschaften, Telekommunikation, Postdienste und Eisenbahn. Jeder dieser fünf großen Sektoren ist völlig anders.“
Die Länder reagierten unterschiedlich auf die vorgeschriebene Trennung von „Rad und Schiene“, wobei viele die für sie unbequemen Bestimmungen des Eisenbahnpakets nicht anwendeten. Einige (wie die Niederlande und das Vereinigte Königreich) trennten sich vollständig, während andere (Deutschland und Italien) eine Teilintegration vornahmen, so dass die Privatisierung der nationalen Eisenbahnmärkte heute in Europa sehr unterschiedlich verläuft, aber in den meisten Ländern sind die größten Akteure monolithische Staatsunternehmen, zumindest im Personenverkehr. An einigen Orten haben sich die Dienstleistungen verbessert, aber nicht einheitlich.
Was bringt’s fürs Klima, wenn ich statt einem Kurzstreckenflug die Bahn nehme?
Der Verkehrssektor verzeichnete einen Anstieg der Treibhausgasemissionen um 30 Prozent. Und fast nichts davon wurde von der Bahn verursacht. Gleichzeitig ist der Luftverkehr für etwa 12 bis 13 Prozent der gesamten Verkehrsemissionen in der EU verantwortlich, wobei ein Großteil davon auf Langstreckenflüge über 4000 km entfällt. Kein Wunder, denn große Entfernungen und größere Flugzeuge verursachen erhebliche Kosten in Bezug auf die Umweltverschmutzung.
Die Kurzstreckenflüge unter 1500 Kilometern machen 25 % der Gesamtsumme aus. Das ist nicht viel, aber wenn die EU Kurzstreckenflüge verbieten und eine Verlagerung auf die Schiene fördern würde (überall dort, wo es eine Verbindung unter sechs Stunden gibt), würde Europa laut einer Greenpeace-Studie bereits 3,5 Millionen Tonnen CO2e pro Jahr einsparen – das entspricht den jährlichen Emissionen von Katar. Hinzu kommen die Nicht-CO2-Auswirkungen des Luftverkehrs (wie NOx und Wasserdampf), die sich nachweislich doppelt so stark auf das Klima und die Gesundheit der Menschen auswirken.
Europa wird seine Klimaziele bei weitem nicht nur durch den Verzicht auf den Flugverkehr erreichen können. Aber in Kombination mit einer Verlagerung des Straßenverkehrs auf die Schiene und mehr Anreizen für die Entwicklung eines funktionierenden Eisenbahnsystems besteht die Chance, die Umweltauswirkungen des Verkehrs erheblich zu verringern.
Gibt es überhaupt positive Beispiele dafür, wie der grenzüberschreitende Schienenverkehr funktionieren kann?
Es ist leichter, positive Beispiele für ein gut funktionierendes Bahnsystem auf nationaler Ebene zu finden (wie in der Schweiz oder im Fall der Strecke Praha-Ostrava in der Tschechischen Republik) als auf grenzüberschreitender Ebene. Es gibt jedoch einen hoffnungsvollen Präzedenzfall, der eine Erwähnung wert ist: die NightJet-Züge der österreichischen Staatsbahn ÖBB. Die Verbesserung der Verbindungen über große Entfernungen ist naturgemäß mit großen Investitionen in Hochgeschwindigkeitszüge, kostspielige Infrastruktur und – leichter gesagt als getan – mit langfristiger Planung verbunden. In Anbetracht dessen kann der Nachtzugverkehr bereits jetzt eine schnellere Alternative darstellen, und die ÖBB haben beschlossen, darauf zu setzen. Nachdem der größte europäische Nachtzugbetreiber, die Deutsche Bahn, ihren gesamten Nachtverkehr eingestellt hatte, sprangen die Österreichischen Bundesbahnen ein und beherrschten schnell den Markt. NightJet wurde bereits im ersten Betriebsjahr rentabel, mehrere Jahre früher als ursprünglich angenommen; allerdings wahrscheinlich nicht ohne die Hilfe der österreichischen Regierung. Heute deckt das NightJet-Netz 10 europäische Staaten ab, und viele seiner Strecken führen durch drei verschiedene Länder. Trotz der durch die Pandemie verursachten Verluste plant das Unternehmen, sein Netz auszubauen und die Zahl der Nachtzugpassagiere bis 2025 um bis zu 50 % zu steigern. Im Jahr 2021 eröffnet das Unternehmen die Verbindung Wien – Amsterdam und Innsbruck – Amsterdam. Im Dezember 2021 soll die Verbindung Wien – München – Paris folgen. In den nächsten Jahren ist geplant, das Netz weiter und gemeinsam mit Partnern auszubauen.