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Nº 19 – Corona und die soziale Basis der Lokalisierung

Donnerstag, der 23. Abril 2020

von Leila Dregger

Zu Beginn der Coronakrise rief (der inhaftierte Journalist) Julian Assange (den ehemaligen griechischen Finanzminister) Yanis Varoufakis aus seinem Gefängnis an und sagte anlässlich des drohenden ökonomischen Zusammenbruchs: „Jetzt ist alles möglich.“ Worauf Varoufakis antwortete: „Ja, und zwar auch im Guten.”

Daran muss ich denken, jetzt wo überall diskutiert wird, wie der Normalzustand wieder hergestellt werden kann. Ich will noch nicht zurück, ich bin noch im Zustand des Staunens. Ich habe ein neues Hobby: Ich sammle positive Lockdown-Nachrichten. Zum Beispiel diese: Ein Freund in einer Großstadt lebt in einem Haus mit insgesamt 14 Kindern zwischen 5 und 13 Jahren, und das Grundstück neben dem Haus ist unbebaut. Dort spielen alle Altersgruppen zusammen, denn andere Spielkameraden gibt es derzeit nicht. Sie erfinden Spiele, wo sich die Fünfjährige ebenso wohlfühlt wie der 13-Jährige. Ich wette, daran werden sie ein Leben lang zurückdenken als eine Zeit tiefer Zugehörigkeit.

Ich will nicht zurück zu normal. Normal war nicht normal, nicht für die meisten Erdenbewohner, für Tiere, Wälder, Kinder! Die Coronakrise hat das Zeug zu einem echten Systemwechsel, auch sozial. Derzeit machen Millionen von Menschen die Erfahrung, dass es in Zeiten der Krise vor allem auf gute Nachbarschaft ankommt. Es geht denjenigen am besten, deren Nachbarschaften lebendig sind, die sich vertrauen, wo Familien und Beziehungen nicht völlig auf sich zurückgeworfen sind, wo Gegenseitigkeit besteht – ob in Stadtvierteln oder auf dem Dorf. Man hilft sich gegenseitig, kümmert sich umeinander, nimmt wahr, was die anderen brauchen. In Portugal hat das Obrigado-System Tradition: Jede freiwillige Dienstleistung aneinander vertieft die gegenseitige Verpflichtung und damit das Sozialgeflecht. Die moderne Welt hat das weitgehend vernichtet. Wo es fehlt, kämpft jeder allein – und das heißt letztlich gegeneinander.

Vielleicht wird das in zukünftigen Geschichtsbüchern stehen, als zentrale Erkenntnis aus der Coronakrise: In der Bedrängnis sind es weniger die Regierungen und die Supermärkte und globalen Versorgungsketten, auf die wir uns verlassen können. Sondern die Nachbarn, ihre Gärten, ihr offenes Ohr, ihre Kraft, mit anzupacken. Das Miteinander ist die wichtigste Überlebens-Ressource.

Für mich wäre das die schönste Konsequenz aus der Krise: Überall beginnen Menschen, die Kostbarkeit ihrer Beziehungen zu sehen, zu pflegen und zu erhalten. Man interessiert sich dafür, wer nebenan wohnt, man fragt nach, man lädt sich ein. Man stößt dabei schließlich auch auf die Berührungsängste – all die Konkurrenzen, Eifersüchte, Heimlichtuereien und Konflikte, wegen derer man ja einst die Türen voreinander verschlossen hat. Nun würde man sich am liebsten wieder verschanzen hinter Computern, Fernsehern, abweisenden Gesichtern. Aber das haben wir lang genug getan. Nach Corona gehen wir weiter. In jeder Region gibt es Gemeinschaften und Ökodörfer, man findet sie zum Beispiel beim Global Ecovillage Network (ecovillage.org). Man besucht sie und lernt von ihnen. Zum Beispiel, wie man auch den Wunsch, immer wieder allein zu sein, sozial einbetten kann. Wie Vertrauen Tiefe erhält. Wie wertvoll Vielfalt und Unterschiedlichkeit für jede Gemeinschaft ist. Gleichförmigkeit ist Monokultur, auch im Zusammenleben. Aber man muss jede Stimme hören – auch die von Kindern und alten Leuten und Menschen mit anderer Meinung oder Schulbildung. Jeder Mensch braucht Anerkennung – und die Möglichkeit, etwas für andere zu tun. Wir alle haben uns unsoziale Eigenschaften antrainiert – zuviel reden oder schweigen, Lügen, Machtspiele, Wutanfälle – aber wir können sie auch ablegen. Dafür gibt es Formen, und die kann man lernen. Miteinander. So wie die Kinder in der Großstadt.

Entweder lernen wir das Miteinander oder wir überlassen die Welt den Überwachungssystemen. Aber wenn wir es lernen, ist alles möglich. Funktionierende Abr Gemeinschaften übernehmen Verantwortung für ihre Versorgung und die Natur. Gemeindegärten, Allmenden und Verarbeitungsbetriebe, lokale Solarkraftwerke, Wasserquellen, Nachbarschaftsbanken, Genossenschaften… wenn es menschlich stimmt, ist alles möglich.

Leila Dregger

Tamera, Odemira

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