Montag, der 6. April 2020
Meine Zeitenwende?
Ein Kommentar von Lucia Ribeiro Kappauf
Seit fünf Wochen lebe ich nun in einem Häuschen in der Nähe von Monchique. Die Spuren des letzten
Waldbrandes sind noch deutlich erkennbar. Hier zu leben, bedeutet für mich, wenig Kontakt zur
Außenwelt zu haben. Es bedeutet, abends mit dem Gesang der sich paarenden Frösche einzuschlafen, um morgens vom krähenden Hahn geweckt zu werden. Die Elektrizität stammt aus einer Solaranlage und das Wasser aus einer Quelle. Eine ganz schön neue Welt für eine junge Städterin wie mich. Wie und wo bin ich hier nur gelandet? Ich mache ein einmonatiges Praktikum bei ECO123, das war zumindest meine Intention. Das Schreiben zu lernen und erste journalistische Erfahrungen zu sammeln, steht auf meiner Agenda. Aber auch mit den Elementen dieses Planeten, der Erde, dem Wasser, der Luft und dem Feuer in Kontakt zu kommen und Bäume zu pflanzen. Dieses Praktikum sollte am 31. März enden, doch heute schreiben wir bereits Freitag, den 3. April. Bin ich eine Gefangene des 17. März?
Am Montag, dem 17. März, verordnete der portugiesische Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa den
„Estado de Emergencia“, eine Maßnahme, um die Ansteckungsgefahren durch das Covid-19 Virus zu
minimieren. Ich erlebe in meiner Unbefangenheit den Prozess, den die ECO123 während der Corona
Pandemie durchläuft. Wir schreiben April 2020, aber die Rädchen des Uhrwerks der Zeit verzahnen sich
neu. Auch die Gesetze des Raumes verändern sich und so bricht eines der Fundamente und Grundrechte
unserer Gesellschaft zusammen: die Bewegungsfreiheit. Fast alles steht still. Was passiert mit dem
Journalismus, wenn wir nicht mehr vorangetrieben, nicht mehr in Bewegung und Hektik versetzt werden? Wo liegt unsere Aufgabe und Verantwortung? Ich begreife, dass dies eine Chance für mich ist, tiefgreifende Strukturen in einer Zeit zu erfahren, in der die Essenz der Dinge als einziges bestehen bleibt. Was bleibt also nach dieser Krise? Der Wandel und all das, was zyklisch ist?
Die Natur. Die Pfirsichbäume stehen schon in voller Blüte, während sich die Walnüsse mehr Zeit nehmen. Aber auch sie werden kommen, zu ihrer Zeit. Und vielleicht ist auch für uns in diesem Frühling die Zeit gekommen, gemeinsam mit der Natur zu erwachen. Zu erwachen aus der Illusion des Habens – immer mehr und immer schneller – und zurückzufinden zum Sein. Im Sein liegt auch Bewusstsein, Solidarität und Gleichgewicht mit der Natur und in unserer Natur. Die Zeit ist gekommen, in der wir alle unsere Sinne reaktivieren, um zu erfahren, auf welchen ausgebrannten Wanderweg wir uns verirrt haben. Wir sind als Menschheit falsch abgebogen und haben nun die Chance, zurückzugehen.
Wir könnten uns für einen grüneren, lebendigeren Lebensweg entscheiden. Ich persönlich weiß noch
nicht, wie und wann ich hier wieder wegkomme. Vielleicht muss ich wirklich nach Deutschland zurück
wandern? Meine Zeit hier wäre fast abgelaufen, doch nun verlängere ich mein Praktikum. Alles im Leben
war vorprogrammiert, mein neues Semester hätte bereits begonnen und ich klammere mich noch an
diese Zukunft der Vergangenheit. Ich muss lernen loszulassen und mich neu zu erfinden. Und so orientiere ich mich um, so wie die Umorientierung momentan auf allen Ebenen des Lebens stattfindet. Im Haushalt, in Beziehungen, im Beruf, in der Wirtschaft.
Wir als Menschheit müssen uns umorientieren und uns dabei neu entdecken. Vom Haben zum Sein? Ich
versuche meine Angst vor der Zukunft in Vertrauen und Lebendigkeit zu verwandeln. Der Frühling
kommt, ich beende meinen Winterschlaf und sammele Kräfte, denn in diesem Moment beginnt eine neue Zeit. Die Elemente des Lebens stehen bereit. Wir alle können den Wechsel schaffen, weg von den Monokulturen und hin zu einer Gesellschaft, die auf Vielfalt, Solidarität und Nachhaltigkeit basiert. Doch das bedeutet Investition, Verpflichtung und harte Arbeit. Wir müssen das Unkraut rausreißen, die
invasiven Bäume an den Wurzeln packen und den Boden auflockern. Bin ich dazu bereit?