Freitag, der 24. Abril 2020
von Dina Adão
Es ist einige Zeit her, da besuchte ich diese “andere Algarve” und kam dabei mit älteren Einheimischen ins Gespräch. Ich fand sie auf den Plätzen ihrer Dörfer, im Schatten großer Bäume sitzend, auf dem Acker oder bei der Arbeit mit ihren Tieren. Nachdem ich ihnen erzählte, an welchem Projekt ich arbeitete und das anfängliche Mißtrauen überwunden war und wir von Angesicht zu Angesicht miteinander sprechen konnten, überkam uns oft eine gefühlte Zeitlosigkeit, in der die Alten meinen Fragen mit einer ungewohnten Zuneigung entgegenkamen, so daß ich ihren Erinnerungen entspannt lauschen konnte.
Dieser Austausch hatte immer als Ausgangspunkt die Gespräche rund um die gastronomischen Traditionen. Was kam während ihrer Kindheit auf den Tisch: zum Beispiel als es Weihnachten wurde – und was haben die Glücklichen gegessen? Das lag daran, dass ich zu dieser Zeit im portugiesischen Süden eine Arbeit über die Geschichte der Lebensmittel für eine Buchreihe recherchierte, die bald darauf veröffentlicht werden sollte. Aber mit der Zeit verlagerten sich die Themen und wir wandten uns anderen Inhalten zu. Im Schatten großer Bäume sitzend, hörte ich aufmerksam den Geschichten von Krankheiten zu, die ein Mitglied der Familie gehabt hatte und welche natürlichen Heilungsmöglichkeiten durch die Pflanzen existierten, die von den Großeltern – und anderen Generationen vor ihnen – verwendet wurden,; welche Geschichten an stürmischen Tagen am Kamin erzählt wurden oder wie die Liebe an Orten aufblühte, an denen es noch keine Mobiltelefone gab.
Als ich das Hinterland verließ – und während ich mich in die entgegengesetzte Richtung bewegte – blieben diese Geschichten in meinen Erinnerungen wie in einem Film. Nun sitze ich vor dem weiten Raum meines Gedächtnisses – und mit der Einsamkeit als Begleiterin – kann ich die Teile trennen, die meine Arbeit mit Leben füllen, und diejenigen, die meine Seele nähren. Als Regisseurin dieses Films schaffe ich oft die Worte, die nicht gesprochen werden, stelle mir Gesichter vor, verewige deren Mimiken. Ich werde immer wieder emotional, wenn ich mich an einige von ihnen erinnere. Ich bin so freimütig, diese schönen Erfahrungen zu leben!
In diesem einen Augenblick ziehen der Fischer aus Quarteira oder der Hühnerzüchter aus Aljezur, der Müller aus Cachopo oder der Schwimmer aus Alcoutim und seine Geschichten über den Schmuggel nach Spanien an meinem geistigen Auge vorbei. Einige dieser Menschen weilen nicht mehr unter uns. Sie sind gegangen. Aber in mir sind sie immer noch lebendig. Ich werde ihre Einfachheit, ihre unermessliche Weisheit für immer in mir bewahren.
Was ihnen an irdischen Gütern oder an Komfort gefehlt haben mag, verewigte sich in ihrer Fähigkeit, miteinander zu teilen. Nicht selten boten sie mir eine Tüte Süßkartoffeln, ein Körbchen mit Süßigkeiten, einen Kohl oder einen Salat, eine Flasche Medronho an. Wir haben Augen zum Sehen und Ohren zum Zuhören, aber oft fehlt uns die Demut des Mitgefühls. Mit ihren Worten und den liebevollen Gesten haben mir diese Einheimischen so viele Geschichten mit auf meinen Weg gegeben…
Wir können in Frage stellen, ob Empathie etwas ist, das jedem Menschen in die Wiege gelegt wird, aber es steht außer Frage, dass wir uns diese Eigenschaft mit zunehmendem Alter aneignen können. Und das Mitgefühl findet uns zweifellos in schwierigen Zeiten. Solidaritätsbewegungen füllen die Seiten der Zeitungen, ziehen das Emotionalste aus jeder einzelnen Person heraus und erinnern uns daran, dass wir alle Teil desselben Netzwerks sind. Diejenigen, die Mehl haben, bringen einen Säckchen davon mit, diejenigen, die Gemüse aus dem Garten haben, kommen zusammen, und plötzlich backen Menschen ohne viel Erfahrung Brot und sie kochen für jene, die uns während der Krise die Sicherheit und das Überleben eines jeden von uns garantieren. Und diese Gesten wiederholen sich, was zu einer Welle der Aufmerksamkeit, der Liebe zu anderen Menschen führt. Dieser Welt möchte ich meinen Namen hinzufügen, einer Welt des Mitgefühls, einer Welt des Respekts und der Solidarität.
Ich sitze in meinem Stuhl, die Sonne bricht durch die Wolken. Müssen wir uns wirklich arm fühlen, um in uns selbst wachsen zu können?