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Nº 22 – Stell Dir vor,

Sonntag, der 26. Abril 2020

du hast 500 Worte, um mir Deine Geschichte zu erzählen. Guten Morgen. Gerade bin ich aufgewacht und stelle fest, ich bin blind. Es ist noch früh am Morgen. Ich mache meine Augen auf und will auf mein Telefon schauen, um die Uhrzeit zu erkennen. Alles dunkel. Ist das Telefon kaputt oder bin ich … ? Das ist kein Traum. Eher ein Alptraum. Das ist die Wirklichkeit, oder? Ich stelle mich diesem Test. Ich stelle mir gerade vor, ich würde von einem zum anderen Augenblick blind. Nichts, was mir gerade noch vertraut erschien, ist noch so, wie es immer war. Was mache ich nur ohne mein Augenlicht? Ohne mein Mobiltelefon mit den vielen Nachrichten und Bildern? Von einem zum anderen Moment verliere ich meine Sehkraft. Ich wache auf und jetzt ist es dunkel. Ich bin orientierungslos. Ich verlasse mein Bett und taste mich vorsichtig zu meinem Schreibtisch. Ich finde den Schalter und mache das Licht an. Bei mir bleibt alles dunkel. Wie werde ich mich von jetzt an in dieser neuen schwarzen Welt zurechtfinden, mich verhalten, in dieser neuen Zeit der absoluten Ungewissheit, der Unsicherheit und wie gehe ich mit dieser Dunkelheit um? Sie macht mir Angst. Ich bin mit ihr nicht vertraut. Ich versuche ich mich neu zu orientieren. Wo bin ich in dieser Welt? Ich setze mich.

Nein, das geht gar nicht, ohne Augenlicht, jedenfalls nicht sofort. Ich sortiere mich. Ich bin konfus. Ich fühle mich schutzlos. Ich fahre besser erst einmal alle meine gewohnten Aktivitäten herunter, nehme diese viele Energie einfach weg, die mich immer bewegt. Jetzt sitze ich auf einem Stuhl, in meinem Sessel. Ich erinnere mich, wo ich bin. Mit meinen Fingern ertaste ich meine Umgebung. Ich habe ein Zuhause, meine Ohren funktionieren, auch mein Tastsinn. Ich kann sprechen, mich verständlich machen und riechen kann ich auch noch. Das ist doch was. Immerhin. Ich lebe. Es muss noch früh am Tag sein. Ich frage mich, ob ich der Einzige bin, der nicht mehr sehen kann, oder ob alle anderen Menschen auch blind sind? Was für eine Vorstellung, die mich da bewegt. Der Boden unter meinen Füßen bewegt sich. Ich kann mir nicht erklären, warum gerade ich auf einmal nicht mehr sehen kann. Von einem Moment auf den anderen. Gleich sind meine 500 Worte zu Ende und meine Geschichte ergibt noch keinen Sinn.

Normalerweise, wenn ich um diese Zeit aufwache, gehe ich zu meinem Schreibtisch und schalte den Laptop an. Es erscheint auf dem Monitor Licht und Farbe. Ich beginne zu schreiben. Auf meinem Monitor bleibt es jetzt dunkel. Wie gehe ich damit um? Wie werde ich mit dieser neuen Situation fertig? Kein Augenlicht, keine Arbeitsgrundlage. Was macht ein blinder Journalist? Blindenschrift beherrsche ich nicht, noch nicht. Siehe da, sagt der Blinde, ich mache es mir in dieser neuen Welt bequem, ich richte mich ein, will etwas neues lernen, mich neu orientieren. Wenn es denn so einfach wäre…Noch 15 Worte. Noch zwölf, zehn, neun… Wo will ich hin? Ich stelle mir jetzt wirklich vor, wie schön das Leben auf dieser Erde sein kann. Guten Morgen.

Uwe Heitkamp (60)

ausgebildeter Fernsehjournalist, Buchautor und Hobby-Botaniker, Vater zweier erwachsener Kinder, kennt sei 30 Jahren Portugal, Gründer von ECO123.

Fotos:Uwe Heitkamp

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