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Nº 31 – Die Bedeutung einer Geschichte

Samstag, der 9. Mai 2020

Überlegungen von Dina Adão

Es ist neun Uhr morgens. Meine Tochter sitzt perfekt geschminkt und angezogen, als würde sie ausgehen, vor dem Computer und starrt fluchend auf den Monitor. Sie sieht traurig aus – Einsamkeit steht ihr ins Gesicht geschrieben. Die Bücher liegen verstreut auf dem Boden und sie schaut sichtlich verärgert auf ihre Uhr. Der Router funktioniert mal wieder nicht. Wir leben auf dem Land und unser Ort wird nur von einem Kommunikations- und Multimedia-Unternehmen versorgt: Meo. Der Service, der nie gut war und gerade mal das halbe Haus einigermaßen abdeckte, läuft jetzt per Kabel durch die traurigen Straßen. In unserem Wohnzimmer findet von 9 – 16 Uhr digitaler Fernunterricht für meine Tochter statt. Die Langsamkeit der prähistorischen Prozessoren unserer Computer führt im Laufe des Tages immer wieder zu kuriosen Verzerrungen der Gesichter auf dem Bildschirm. Das ist bedauerlich. Ich kann leider keine Abhilfe schaffen, da ich in der Wohnanlage keine Satellitenschüssel installieren darf. Deshalb bleibt uns nur tief durchzuatmen, den Computer auszuschalten und … es erneut zu versuchen.

Jeden Tag versuche ich, etwas Positives zu kreieren und die Menschen, mit denen ich zu tun habe, daran zu erinnern, dass Leben in uns steckt und es auch in schweren Zeiten wichtig ist, etwas zu schaffen, um sich lebendig zu fühlen. Am Telefon schüttete ich einer Freundin mein Herz aus: „Mir, der es so wichtig ist, Geschichten zu erzählen, scheint im Moment die seelische Kraft zu fehlen.“ „Vielleicht ist dies keine Zeit für Geschichten. Warum wählst du keine andere Form des Erzählens? “, fragte sie mich. Darüber musste ich erst einmal gründlich nachdenken.

Ich erzähle Geschichten mit Mund, Augen, Körper, Fingern… Als Archivarin erzähle ich Geschichten; als Bibliothekarin erzähle ich Geschichten; und ich erzähle auch Geschichten als Journalistin, als treue Liebhaberin der Fotografie und selbst wenn ich am Strand Müll sammle. In einigen Medien nennen sie mich „Wortschöpferin“ – ein Spitzname, den ich sehr zu schätzen weiß.

Ich halte inne, um über den Stellenwert nachzudenken, den Geschichten in meinem Leben einnehmen. Ich weiß, dass ich eines Tages, wenn ich zurückblicke, sagen kann, dass es eine Phase gab, in der ich gelernt habe, mich der Zeit hinzugeben und spürte wie sie langsamer zu vergehen schien… Eine Zeit, in der ich es schaffte, mir das auf dem Müll gefundene Möbelstück anzusehen und zu erwägen, ihm endlich neues Leben einzuhauchen.

Ich werde mich daran erinnern, dass ich in dieser Zeit das Gedicht des brillanten Fernando Pessoa verstanden habe (weil ich es zum ersten Mal fühlen konnte): „Oh, was für ein Vergnügen / Keine Pflicht erfüllen / Ein Buch zum Lesen zu haben / Und es nicht zu tun!“ Es ist ein großartiges Gedicht, und ich bin etwas überrascht, dass es mich erst jetzt so beeindruckt hat. Der Titel ist kein Zufall: Freiheit.

Wenn ich diese Geschichte eines Tages erzähle, werde ich Wörter wie “Beschränkung”, “soziale Distanz”, “Covid-19” oder “Ausnahmezustand” nicht erwähnen. Wie jede gute Geschichte werde ich sie in ein neues Gewand kleiden. Ich werde mich daran erinnern, wie oft ich das Gefühl hatte einfach alles können zu müssen, wie oft ich mich gezwungen habe, Probleme ins rechte Licht zu rücken, Anderen eine immense Zuneigung entgegenbrachte, oder das Bedürfnis hatte, den Dingen ein neues Leben zu geben.

Morgen gehe ich übrigens in die Drogerie. Ich werde Sandpapier und eine kleine Dose weiße Holzfarbe kaufen und meinem Zimmer eine neue Geschichte erzählen. Oder sollte ich sagen: eine neue Erzählung über einen alten Nachttisch, der zum Leben wiedererweckt wird?

Dina Adão (45)

studierte Journalistin und Bibliothekarin, Mutter einer 12-jährigen Tochter, arbeitet am Colégio Internacional de Vilamoura und freiberuflich für ECO123.

Fotos: Dina Adão

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