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Nº 64 – Unsere Zukunft entscheidet sich Heute

Samstag, der 5. Dezember 2020

Acht portugiesische Jugendliche aus Lissabon und Leiria, zwischen acht und 21 Jahren, haben Deutschland, Frankreich, Großbrittanien sowie 30 weitere europäische Staaten, inklusive Russland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg verklagt. Es geht darum, daß die verklagten Staaten nicht genug gegen den Klimawandel tun. Der EGMR hat – zur Überraschung – die Klage zugelassen. Wegen der Wichtigkeit und Dringlichkeit der aufgeworfenen Fragen werde man der Beschwerde Priorität einräumen, teilte der EGMR am Montag mit.

Mangelnder Klimaschutz verletzt Menschenrechte. Im Kontext zwischenstaatlichen Rechts wird darauf hingewiesen, dass zwar der Zusammenhang zwischen konkretem Schaden und konkreten Handlungen schwierig nachzuweisen sei, dass aber die Verursachung des Klimawandels durch menschliche Handlungen außer Frage steht und es daher leichter ist nachzuweisen, das ein Rechtssubjekt – im internationalen Recht meist ein Staat – seine Sorgfaltspflichten verletzt und angemessene Vorkehrungen treffen muss, Schaden zu vermeiden, also für eine entsprechende Minderung von Treibhausgasemissionen zu sorgen.

Seit 2015 gewinnt in der Klimaforschung der Bereich der Zukunftsforschung (attribution science) an Bedeutung, der den Beitrag des menschenverursachten Klimawandels zu einzelnen extremen Wetterereignissen untersucht. Juristen erwarten, dass mit dem zunehmendem Verständnis, welche Wettereignisse erwartbar sind, sich die Pflichten von Staaten und nicht-staatlichen Akteuren verändern, speziell wenn Unternehmen für entstandene und noch zu entstehende Klimaschäden und Anpassungskosten haftbar gemacht werden. Die Zuordnungsforschung könnte ein Treiber künftiger Klagen werden.

Eine Klage zu erheben birgt die Möglichkeit, gesellschaftliche Wahrnehmung hervorzurufen und Einfluss auf die öffentliche Debatte zu nehmen. Das Verfahren kann konkrete Folgen hinter wissenschaftlich fundierten Zusammenhängen und abstrakten oder realen Bedrohungen hervortreten lassen. Bejaht das Gericht Zusammenhänge, kann das hohe Ansehen, dass die Rechtsprechung in vielen Rechtssystemen genießt, juristischen Positionen zum Thema Umwelt Legitimität und Autorität verleihen. Die Thematisierung der Klimafolgen vor Gericht, so die Hoffnung von Klägern, kann somit soziale, ökologische und ökonomische Normen beeinflussen.

Die deutsche Presseagentur dpa schreibt dazu: Die achtjährige Mariana Agostinho und ihre fünf jungen Mitstreiter setzen 33 Länder Europas im Kampf gegen den Klimawandel mächtig unter Druck. Mariana ist die jüngste der Gruppe, die älteste ist 21. Allen EU-Staaten sowie Norwegen, Russland, Großbritannien, der Türkei, der Schweiz und der Ukraine werfen sie vor, die Klimakrise zu verschärfen und damit die Zukunft ihrer Generation auf’s Spiel zu setzen. Ihr Ziel: Der EGMR soll die Klimasünder dazu anhalten, ihre nationalen Ziele höher zu setzen und die von ihnen und ihren international tätigen Konzernen weltweit verursachten Emissionen zu reduzieren. Dabei geht es um die umweltschädigende Produktion von Gütern ebenso wie um die grundsätzliche Anbauweise durch umweltschädigende Monokulturen in der Agrar- und Forstwirtschaft Europas.

Global Legal Action Network (GLAN) bezeichnet die Klima-Klage in Straßburg als “beispiellos”. Normalerweise müsse eine Person vor einem inländischen Gericht klagen, bevor sie einen Fall vor den EGMR bringen kann. Im Falle des Kampfes gegen den grenzübergreifend verursachten Klimawandel sei es für eine Gruppe von Heranwachsenden aber nicht möglich, ihr Anliegen in 33 verschiedenen Ländern vorzubringen und jeweils bis zu deren höchsten nationalen Gerichten zu verfolgen. Deshalb gehe man diesen bisher unbeschrittenen Pfad.

Der Hauptvorwurf der Kläger lautet: Es fehle ein global vereinbarter Ansatz zur Lastenteilung bei der Bekämpfung des Klimawandels. Das schaffe Unsicherheit über den “fairen Anteil” eines jeden Staates, die von manchen Ländern genutzt werde, um “eigennützige Interpretationen zu wählen”. Der EGMR solle erzwingen, dass die EU sich als Ganzes verpflichtet, ihre Emissionen bis 2030 um mindestens 65 Prozent zu reduzieren. Nur so könne das angestrebte Ziel einer Erderwärmung von höchstens 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter erreicht werden.

André ist 12 Jahre jung und lebt in Lissabon. Er und seine Schwester Sofia Oliveira, 15 Jahre, sind bei der Klägergruppe dabei und haben bereits an zwei Klimademonstrationen teilgenommen. “Es ist ein so wichtiges und kompliziertes Thema, dass wir es nicht den Erwachsenen überlassen dürfen”, sagt er gegenüber ECO123 und lächelt. Man müsse “schon in einer Fantasiewelt leben, um ohne Angst leben zu können”. Ob er Angela Merkel gern etwas persönlich sagen möchte? “Ich würde mich bei ihr für all die Arbeit und Mühe bedanken – würde ihr aber auch sagen, dass nicht genug getan wird und uns die Zeit davonläuft.”

Bei ihrem Kampf werden die jungen PortugiesInnen von GLAN unterstützt. Die Nichtregierungsorganisation spricht von einer “beispiellosen Aktion”. Die Entscheidung des EGMR sei nun “ein wichtiger Schritt in Richtung eines möglichen wegweisenden Urteils zum Klimawandel”.

 

Uwe Heitkamp (60)

ausgebildeter Fernsehjournalist, Buchautor und Hobby-Botaniker, Vater zweier erwachsener Kinder, kennt sei 30 Jahren Portugal, Gründer von ECO123.
Übersetzungen : Dina Adão, John Elliot, Kathleen Becker, João Medronho

Fotos : dpa EGMR, Strassburg

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