Samstag, der 17. April 2021
Als ich diese Woche vom Postamt, wo ich ein Postfach besitze, für das ich 60 Euro plus 23 % Mehrwertsteuer im Jahr bezahlt habe, nach Hause kam, fand ich einen Brief vor meiner Haustür. Dieser war kunstvoll im rechten Winkel neben die Fußmatte gelegt. Da lag er auf der nackten Stufe und ich fragte mich, welcher Staatsdiener (oder kontraktierte Subunternehmer) sich wohl aus seinem Büro an die frische Luft zu mir herausbewegt hatte, mir auf diesem Wege mitzuteilen, das wieder einmal, wie alle zehn Jahre, das Volk gezählt werde? Portugal hatte in 2019, nach einer letzten Rechnung 10 295 909 Einwohner, davon 4 859 977 Männer und richtig, 5 435 932 Frauen. Das ist sehr hohe Mathematik. Was sagen uns diese Zahlen und anders gefragt, gibt es ein Leben hinter den Zahlen und falls ja, wie sieht dieses Leben aus?
Anleitung für Rechtshänder.
Manche Journalisten bereiten sich ja sehr sorgfältig auf ihre Arbeit vor. Sie gucken hinter diese Zahlen. Sie schreiben ihre Fragen an den Beamten, Abgeordneten oder Minister vor einem Interviewtermin auf ein weißes Blatt Papier und nummerieren diese gewissenschaft durch. Dann verschicken sie das per E-mail. Ich habe sehr viel Respekt für Arbeit. Aber ich muß sagen, liebe Kollegen, das Durchnummerieren ist heute in der Demokratie nicht mehr notwendig. Man kann Interviews immer noch oder schon wieder von Angesicht zu Angesicht machen. Darin unterscheiden wir Journalisten uns eigentlich von den Beamten. Gute und interessante Interviews zu führen, gehört zur hohen Kunst eines Journalisten. Man kann das auf der Journalistenschule und auch im alltäglichen Leben beim Arbeiten draußen mit den Menschen lernen, in direktem Kontakt. Man mache sich einen Spickzettel mit nicht mehr als fünf Worten darauf und stecke ihn zum Termin für ein Interview, zum Beispiel mit einem Premierminister, in die rechte Hosentasche, Anleitung für Rechtshänder. Und dann einfach frei und direkt fragen. Auch mit Maske. Trauen Sie sich. Versuchen Sie es mal. Das gilt übrigens auch für ein Intervew mit einem Otto-Normalverbraucher oder eben, mit einem Beamten.
Was wollte ich noch sagen? Ach ja, Demografie ist eine interessante Aufgabe. Weil zum freien Reden immer auch das freie Denken gehört, braucht es dafür wiederum eine Basis. Diese Basis ist die frische Luft, das vierte Element neben festem Boden, einem Glas Wasser und einer gut dosierten Portion Feuer unter dem Arsch. Man muß brennen für seinen Job als Journalist. Das sollte übrigens auch für Staatsdiener gelten. An dieser Stelle wollte ich nun ein Interview mit einem Beamten vorbereiten, der beim Instituto Nacional de Estatística arbeitet und die Volkszählung durchführt. Frische Luft ist ein Fluidum, das einem Menschen die Realität ein wenig näherbringt. Insofern finde ich es lobenswert, daß mir ein Staatsdiener o.ä. diesen Brief vor die Haustür gelegt hat. Auch in Zeiten einer hochansteckenden Krankheit ist die frische Luft ein Lebenselexier von hoher Güte. Frische Luft und mit beiden Füßen auf der Erde stehen, hält geistig und körperlich gesund. Gute Erde verschafft einen sicheren Stand. Es gibt nichts Besseres für einen guten und frei denkenden Journalisten, sich an der frischen Luft und geerdet darüber Gedanken zu machen, wie er ein gutes Interview mit einem Beamten zustande bringt. Wenn wir über den zu interviewenden Staatsdiener nachdenken und was wir in unserem Staat noch alles verbessern könnten, fällt uns der direkte und ehrliche Kontakt ein, den der Beamte mit seinem normalen Bürger haben könnte. Besuch beim Bürger zuhause bei einer Tasse Kaffee? Wir wollen nicht übertreiben. Schade, daß mir der Brief nicht persönlich ausgehändigt wurde. Ich habe ihn noch nicht geöffnet. Beamte sind schon sehr spezielle Menschen.
Apropos: haben Sie schon mal den Sauerstoffgehalt der Luft gemessen, der gegen Abend in den Amtsstuben des Öffentlichen Dienstes in unserem Land herrscht? Eine Kollegin fragte neulich einen Beamten nach der Bilanz seines Schaffens. Ob dieser seinen Arbeitsplatz, seinen Bürostuhl, seinen Schreibtisch, seine Arbeit, sich also selbst schon mal als wichtig empfunden habe, (oder nur als Rädchen einer großen Maschine?) der sich selbst und das, was er jeden Tag anstellt, derart infrage gestellt habe, das er am Ende des Tages ehrlich zu sich selbst geworden sei und darüber nachgedacht habe, den Dienst zu quittieren? In die freie Wirtschaft zu wechseln? In die Rente? Sich selbst infrage stellen, gehört heute zu den herausragenden Tugenden eines “técnico” im Staatsdienst. Aber auch ein Journalist sollte diese Übung beherrschen.
Nee, habe der Sesselpfurzer (sie nannte ihn Sesselpfurzer) ihr erzählt, er habe noch nie einen solchen Beamten kennengelernt, der sich selbst infrage gestellt habe. Denn dafür gäbe es keine Verordnung, in der das vorgeschrieben sei. Obwohl es bei uns sicherlich zu den Errungenschaften der Bürokratie im modernen Staate gehören könnte, dieser Denksportaufgabe am Ende eines Tages mal auf den Grund zu gehen.
Kritische Situationen vermeiden
Reden wir über Geld? Haben Sie als normaler Steurzahler schon mal ein Rathaus, ein Finanzamt, eine Sozialversicherung, die Polizei oder ein Gericht von Berufes wegen besucht? Sind Sie mal in Portugal zur Schule gegangen oder haben Sie ein Krankenhaus besucht? Bei uns arbeiten zwei Drittel der Bevölkerung im öffentlichen Dienst, die den ganzen Tag fast immer einer unsichtbaren Gefahr ausgesetzt sind. Es ist das Einatmen von CO2-gesättigter Luft, die besonders gegen Abend immer weniger Sauerstoff enthält, so daß die Gefahr besteht, daß der Denkprozeß bedenklich eingeschränkt wird, wenn die Fenster den ganzen Tag geschlossen bleiben. Und sowas passiere fünf Tage die Woche. Das alles hinterließe Spuren. Man würde langsamer und das selbstständige Denken fiele schwerer, wenn die Luft immer weniger Sauerstoff enthielte. Das sei vermutlich auch der Grund, warum ein Großteil der Behörden in unserem Land entschieden habe, bereits um vier Uhr nachmittags für den Publikumsverkehr zu schließen.
In unserem Landkreis leben keine 6 041 Menchen mehr. Die meisten sind weggezogen. Viele leben und arbeiten bereits im Ausland. Für uns, die Zurückgebliebenen gibt es nur noch einen großen Arbeitgeber. Das ist das Rathaus. Aber der Staat muß es genau wissen. Er will seine Menschen zählen, denn diejenigen, die ausgewandert sind, fallen je unter den Tisch. Also zählen die Beamten das letzte Drittel: die Bauern, Handwerker, die Künstler und Journalisten, die aktiven Steuerzahler des Landes, die uns verblieben sind.
Übrigens: ich finde den Gedanken interessant, einen Staatsbediensteten mehrere Male pro Jahr von seinem Schreibtisch auf den Acker zu schicken, als Fortbildungsmaßnahme, ihm dabei einige Saat-Kartoffeln oder andere Samen von eßbaren Pflanzen in die Hand zu drücken, auf das er den Normalbürgern mal zeige und den Beweis antrete, daß auch ein Beamter – ohne Schreibtich und Computer – sich selbst ernähren kann. Das nur für den Fall, das es in naher Zukunft noch weniger Steuerzahler gäbe, die Steuern für die Finanzierung der übrigen zwei Drittel zahlten. Resümé: Wer wenig Steuern zahlt, so wenig, wie es das Gesetz vorschreibt, kann ganz sicherlich nicht einverstanden sein mit der zeitgenössischen Politik im Staate, oder etwa doch?