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Alle Tage Indien

3. Folge

Refugium Kalimpong*. – Die Stadt im Himalaya krallt sich an den Hängen fest wie ein Überlebender an einen Kliff. Kalimpong hat sich ausgedehnt, es krabbelt und kriecht über sämtliche Felsen und Klüfte hinweg in die entlegenen Falten der

Kalimpong - Darjeeling
Kalimpong – Darjeeling – Martin & Madan

Landschaft hinein. Dennoch wirkt es kleinstädtisch-fröhlich und charmant. Kalimpong ist meine indische Fluchtburg. Immer atme ich auf, wenn ich mein Zimmer beziehe, das Indira Bose, meine Landlady, für mich gebaut hat. Abseits von ihrem Haus mit seinen zahlreichen Bewohnern, versteckt, vor Blicken von einem Abhang einerseits und einem dicken Bambushain andererseits geschützt, da steht das stabile Hüttchen, an zwei Seiten eingefaßt von einer Veranda. In dem einen Zimmer stehen ein Bett und ein kleiner Tisch, ein Schrank und zwei Stühle – basta! Auf dem Fensterbrett ein Wasserkrug, drei Stahlbehälter für Brot, Käse, Butter, Biskuits.
Hier bin ich Einsiedler, hier kann ich sein. Es gibt Strom für Licht und Computer. Im Schrank wartet ein kleines elektrisches Heizöfchen und ein kleiner Ventilator – gegen Kälte oder Hitze, aber ich versuche, auf beides zu verzichten. Ein paar Bücher im Schrank, Unterwäsche und zwei Hemden, eine Wollmütze, eine lange Unterhose, ein Schirm. Das reicht.
Das Badezimmer liegt getrennt hinter dem kleinen Haus, vom Zimmer unsichtbar. Plastik ist verbannt. Holz an den Innenwänden bis zum Nabel, die Veranda mit schönem, weißgestrichenem Holzgeländer.

Binays Verzweiflung. – Jaiprakash, dieser treuste meiner Kalimponger Freude, ist nach Bangalore umgezogen, um bei einer Finanzfirma zu arbeiten. Es ist ebenso bedrückend wie typisch, daß talentierte und gut ausgebildete junge Menschen in den Bergstädten wie Kalimpong keine angemessene Arbeit finden. Alle streben hinaus.
Jaiprakash traf ich jeden Abend auf der Main Street, und sei’s nur, um in „3Cs“ einen schlechten Nescafé zu trinken. Das Himalayan Hotel, mein Lieblingsort, war ihm zu still, zu einsam – zu nobel. Er brauchte Bewegung um sich und ein paar Mädchen, denen er schöne Augen machen konnte. An seiner Statt treffe ich, wenn auch nicht so oft, Binay (31 Jahre), Jaiprakashs Kollegen. Gemeinsam waren sie Lehrer in dem Rockvale Business College gewesen, Binay ist es immer noch. Ein sehr ruhiger, mundfauler, dunkler Mensch, Computerfachmann und seit einigen Monaten heftig verliebt in eine seiner Kolleginnen, was ihn deprimiert und noch versunkener macht.
Binay s Familie stammt aus Bihar. Aber seine Eltern wohnen seit Jahrzehnten in Kalimpong. Binay wurde in Bihar geboren, weil es Sitte ist, daß eine werdende Mutter in ihre Heimat zurückkehrt, um dort ihr Kind zu gebären, und kehrte aber als Winzling von einigen Monaten nach Kalimpong zurück. Er spricht Nepali und Bihari und Hindi, hat zudem eine englische Schulerziehung genossen und unterrichtet jetzt Computer Science. Seine Freundin kommt auch aus Bihar, entstammt aber einer anderen Unterkaste. Sowohl ihre Eltern wie seine Eltern sind gegen die Beziehung und kämpfen gegen die Heiratspläne ihrer Kinder.
Beide sind finanziell unabhängig. Beide modern erzogen, beide um die dreißig. Aber gegen den Wunsch ihrer Eltern wollen sie nicht heiraten. Deren Argument ist: Wir sind nicht gegen eure Heirat, wir wollen euer Glück, wir finden euch „ein prima Paar“, aber unsere Verwandten stänkern gegen euch, und was wird aus euren Geschwistern, die auch heiraten wollen? Werden sie würdige Partner finden, wenn herauskommt, daß ihr ungleiche Partner seid? Die Mitgift wird in die Höhe schnellen, sich die Vorbehalte auftürmen, die Mühe, einen Gatten für die Töchter zu finden, umso größer sein.
Weglaufen? – Binay möchte keine heftigen Lösungen. Die Eltern des Mädchens planen, ihre Anstellung im College zu beenden und ihr einen Platz anderswo weitweg zu suchen. Alles über ihren Kopf weg.
Die Eltern haben ihre Kinder mit größtmöglicher Sorgfalt auferzogen. Jetzt meinen sie, die Kinder seien ihr Eigentum. Auch ihrer Kinder zuliebe können sie nicht auf das Prestige einer standesgemäßen Heirat verzichten.

Warten auf Madan. – Vor einem Monat hatte ich Madan Thapa Magar (22 Jahre) nach Kalimpong eingeladen. Heute nachmittag um halb fünf steht er endlich vor mir! Lange hatte ich gezweifelt, ob er, mein Bergführer aus Nepal, der beim

Madan
Madan

Manaslu-Trek zwei Wochen neben mir hergewandert war, mich vor Gefahren behütete, fröhlich war und mich fröhlich stimmte, ob er meiner Einladung zustimmen würde und diese lange Reise von Kathmandu mit dem Bus nach Siliguri und dann mit dem Taxi nach Kalimpong auf sich nehmen würde. Ich hatte die Busverbindungen herausgesucht und ihm am Telefon mitgeteilt. Er sagte, ja, er werde kommen. Seine erste Reise nach Indien. Vierundzwanzig Stunden im Bus. In Kathmandu hatte er erfahren, daß der Bus an der nepalesich-indischen Grenze in Kakadvitta morgens um sechs Uhr eintreffen werde. Folglich bestellte ich den Taxifahrer aus Siliguri für sechs Uhr dorthin, etwa eine Stunde von der Stadt entfernt.
Der Taxifahrer wartete und wartete, mit einem Schild „Madan for Kalimpong“ an der Windschutzscheibe. Er rief mich einmal in der Stunde an, seine Stimme wurde mürrisch und immer drohender. Ich müsse „Schadenersatz“ zahlen, rief er, als sei ich an der Verspätung schuld.
Ich wurde in meinem Zimmer immer nervöser und versuchte den Taxifahrer davon abzuhalten, nach Siliguri zurückzukehren. Dann könne er auch seinen „Schadenersatz“ nicht verlangen, argumentierte ich. Er konnte Madan jenseits der Grenze nicht über dessen Mobiltelefon erreichen, weil keine Verbindung zwischen den Mobiltelefonnetzen der beiden Länder besteht. Erst nahe der Grenze erreichte Madan den Fahrer und konnte sagen: Ich bin fast da!
Endlich konnte Madan mich anrufen. Er war über der Grenze, er hatte den Taxifahrer entdeckt. Er war auf dem Weg nach Kalimpong.

Himalayan Hotel. –Jeden Nachmittag sitze ich lang auf dem Balkon des Himalayan Hotel, lese die Zeitung, schreibe und blicke aus meinem versteckten Vogelnest auf die Welt. Es ist

Himalayan Hotel in Kalimpong (Jayanta Das)
Himalayan Hotel in Kalimpong

diesig, manchmal streichen die Wolken durchs Tal und legen sich einige Minuten lang über die Stadt wie ein wärmender Schal, es ist sonnig, es dunkelt und die die Lampen leuchten auf, immer stärker, ich aber sitze im selben Stuhl und schaue und schaue und genieße diese Stunden der Seßhaftigkeit.
Die wirre Lebendigkeit de Main Street ist von hier aus gebändigt, ins Poetische gehoben. Zwischen den Bäumen schaut die MacFairlane-Kirche hervor mit ihren neuen, etwas zu lieblich-beige angemalten neuen Minaretten auf dem Turmviereck. Vor drei Jahren waren diese Minarette bei einem Erdbeben zu Boden gedonnert und hatten sich mit Wucht zur Hälfte in die Erde gegraben. Zuvor hatte ich immer auf die Glocken gewartet, die um halb fünf läuteten. Die tiefen Glockentöne, die wunderbar durchs Tal schwangen, erinnerten mich an die Glocken in Boppard, meiner Geburtsstadt, die durchs Rheintal läuten, und mehr noch an die helleren, kleineren Glocken von Forno im weit verzweigten Stronatal, der oberitalienischen Heimat meiner Großmutter,worin sie nach Herzenslust ausschwingen konnten. Jetzt warte ich, wenn halb fünf naht, auf die Glocke, aber sie läutet nicht mehr, sie ist noch in Reparatur.
Nilam MacDonald, die Besitzerin des Himalayan Hotel, ordnet den Garten rund um das Hotel an wie die prächtige Einfassung eines Edelsteins. Die Umgebung ist uneben, hat darum keine Großstrukturen, sondern ergötzt sich in Miniaturen der Gartenkunst. Da eine Gruppe großer roter Glockenblumen, dort zwei Büsche, kunstvoll zueinander hingeordnet. Hier ein hoher Baum, der einem Rosenbeet Schatten spendet, anderswo säumen niedrige, dichtblättrige Büsche den Weg, der mit Natursteinplatten ausgelegt ist. Nichts scheint zufällig, aber nirgendwo wird der Natur Gewalt angetan. Der große Steinbau des Hotels wirkt in dieser Miniaturlandschaft umso würdiger und wuchtiger. Der Kolonialbau braucht viel Holz, etwa die Geländer auf der Veranda, die Täfelung im Speisesaal, alle Decken – dunkel gebeiztes, honoriges Holz.
Der neue Kellner, die mir den Masala Tea* bringt, heißt Paul Lepcha, gehört dem Lepcha-Stamm an, dem am meisten verbreiteten Volksstamm in diesen Bergen. Groß und dünn und dunkel, mit übertrieben höflichem Gebaren, immer tiefe Verbeugungen ausführend, wirkt er aber nicht lächerlich, sondern kindlich-symapthisch. Ein schwungvoller Mensch, ohne gravitas, ganz Luft und Wind. Ich freue mich, wenn ich beobachte, wie er den Tee einschenkt, dann aufblickt und sagt: „Enjoy, Sir!“ und das niemals ohne sein gewinnendes Lächeln.
An diesem Platz an der rechten Ecke des Balkons im ersten Stock ist mir kontemplativ zumute, als sei der Ort geheiligt. Er ist es wohl, wer weiß warum.

Rückkehr im Zug. – Madan hat den langen Rückweg nach Kathmandu angetreten, ich verabschiede mich von Indira und Binay, seiner Braut Priya, von Nilam und anderen. Zuerst im Taxi von Kalimpong nach New Jalpaiguri. Früher bin ich im

Banhof
Estação de comboio

Bus gefahren; seitdem ich meinen Laptop mitnehme, vermeide ich es, weil die Gepäckstücke stets auf dem Busdach befördert werden, zwar verpackt und festgezurrt, aber den holprigen Straßen hilflos ausgesetzt. Die moderne Technik kann sich hier dem Lebensstil des Volkes nicht anpassen. Wir Menschen sind anpassungsfähig, weniger aber die menschengemachten Produkte.
Auf dem Weg zur Stadt, sobald die Ebene erreicht ist, auf beiden Seiten dichter Wald, in denen Elefanten leben. Siedlungen des indischen Militärs, Übungsplätze, Armee-Schulen, überall Militärfahrzeuge. Die Anlagen sind streng durch Zäune abgegrenzt, sind blitzblank sauber, mit Gärtchen und kleinen Parks, aber alles soldatisch aufgeputzt und abgezirkelt und kitschig-bunt angestrichen. Kein femininer Touch, keine Rundung und kein Flair, nirgendwo erlaubt man der Natur Freiheit. Viele Holzbauten stehen auf Stelzen, um der Termitenplage gegenzuwirken.
Runter ins laute, staubige, menschenwimmelnde Leben, in die schwammig-breitgetretene Doppelstadt New Jalpaiguri und Siliguri. Mit den Jahren sind die beiden Städte ineinandergeschwappt. Durch keinen Fluß oder Teich oder Garten, keine breite Prachtstraße, kein großzügig angelegtes Viertel, keinen Turm, keinen Tempel – durch nichts zeichnen sie sich aus. Moderne Einkaufszentren neben Hütten und Bruchbuden, keine planende, ordnende Hand, keine Sehnsucht nach Schönheit. Nur Straßen und Menschen und Fahrzeuge und Staub und Lärm.
Vor dem Bahnhof sind die Bänke abmontiert worden, man muß stehend warten oder geht weg. Ich suche ein ruhiges Restaurant, in dem ich die Zeit verbringen kann. Der Bahnhofsplatz ist umringt von Eßbuden, in denen man aber nur einfache Reismahlzeiten bekommt, und für sie ist es noch zu früh. Ich gehe weiter zu den kleinen Absteigen für Reisende; ein Zimmer, ja, könnte ich haben; aber einen Kaffee, einen Imbiß, na, geht nicht. Später Reis, ja, sonst nix.
Wandere ich also umher und warte ab, der Zug fährt um neun Uhr ab. Er ist eine Stunde verspätet, also weiter stehen, diesmal auf einen der drei großen Eisenbrücken, die sich über die Geleise spannen, um nur nicht die Lautsprecheransage zu verpassen, an welchem Bahnsteig der Zug ankommen wird. Die Ansagen sind gründlich: Jede in drei Sprachen: Bengalisch, Hindi und Englisch, und werden pausenlos wiederholt, bis eine neue Ansage fällig ist. Gerade wegen der ständigen Beschallung ist es möglich, die Ansage zu verpassen, nach einiger Zeit kann man nicht mehr ihren Sinn aufnehmen.
Insgesamt ist die Organisation auf den Bahnhöfen übersichtlicher und geordneter geworden als vor Jahrzehnten. Ich erinnere mich, wie wir an den langen Fernzügen entlang von Abteil zu Abteil gehastet sind, um auf den Aushängen unseren Namen zu entdecken. Wir waren nicht allein, die hasteten. Dutzende und Hunderte hasteten wie wir, um vor der Abfahrt die Sitzplätze zu finden. Damals fuhr ich nur Dritte Klasse. Die Holzbank hatte keine Polster, und obwohl für drei Personen gedacht, saßen fünf Menschen darauf, oder mehr. Man mochte niemanden verscheuchen, der noch ein Eckchen Holz unter den Po schieben konnte. Wer protestierte und auf seinen vollen Platz beharrte, war in der Minderheit und wurde niedergeschrieen. Handgreiflichkeiten lagen in der Luft. Die Atmosphäre konnte aber ebenso rasch wieder in Bonhomie münden.

mapa* Kalimpong liegt im Distrikt Darjeeling im Himalaya.
* Masala Tea Tee mit Gewürzen.

About the author

Martin Kämpchen (65) geboren in Boppard, Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft, Philosophie und Romanistik in Saarbrücken, Wien und Paris; Dr.phil in Germanistik in Wien. 1971 ging er als Stipendiat für drei Monate nach Indien. Ab 1973 arbeitete er in Kalkutta als Deutschlektor an einem Spracheninstitut; Zusammenleben mit Mönchen des Ramakrishna-Ordens in Narendrapur südlich von Kalkutta. Seinen zweiten Dr.phil. vollendete er mit einer Arbeit über den “Begriff der Heiligkeit im Hinduismus und Christentum, dargestellt am Leben von Ramakrishna und Franz von Assisi”. Er lebt seit 40 Jahren als freischaffender Schriftsteller, Übersetzer und Journalist in West-Bengalen.

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