1. Folge
Gespräch mit Boro. – Großer Moment: Zum ersten Mal gab Boro im Gespräch mit mir zu, daß er sich in seiner Arbeit ausgefüllt und zufrieden fühlt. Nach zwanzig Jahren der Unsicherheit und Unentschlossenheit. Noch vor wenigen Jahren sprach er davon, „für einige Jahre“ einen Job beim Staat zu suchen. Der Sog von cakri, einer Anstellung als Beamter auf Lebenszeit, ist so überwältigend, daß selbst ein vernünftiger, nachdenklicher Mensch wie Boro ihm zwanzig Jahre nicht entkommen konnte. Endlich hat er eingesehen, daß er es als Leiter der Santal-Schule und des Dorfvereins in Bishnubati besser hat, als seine Gleichaltrigen in der Beamtenlaufbahn, die alle über ihre mechanisch-sinnlose, an Paragraphen klebende Arbeit jammern.
Boro Baski, den ich als Schüler kennengelernt, dann durchs Studium fördernd begleitet habe, ist einen erstaunlich guten Weg gegangen. Er konnte weiterstudieren und sein Doktorat machen, während er von Deutschland ein Stipendium bekam und bei uns von seinem Dienst in Schule und Dorf monatelang freigestellt wurde. Allerdings hat er seine akademische Leistung nicht dazu benutzt, abzuspringen, sondern – so wie erhofft – um über seine Lehrer- und Leiterfunktion hinaus für die Nöte und die kulturellen Hoffnungen seines Stammes, der Santals, zu wirken. Und um allgemein auf das Leben der Dorfbevölkerung aufmerksam zu machen. Er schreibt Aufsätze, er hält Vorträge an der Universität, er reist zu Seminaren. Ich hoffe, daß er diese Tätigkeiten ausweitet und mit Bedacht, also ohne Ehrsucht und Geldgier, unter den zahlreichen Wirkmöglichkeiten auswählt und eine transformative Kraft unter den Santals wird.
Junior Leaders. – Seit einigen Jahren versuchen wir, die „Second Line Leadership“ aufzubauen, die zweite Generation von jungen Männern und Frauen, die Verantwortung im Dorf übernehmen. Ich sehe es als meine persönliche Aufgabe an, die Junior Leaders, wie ich sie lieber nenne, zu fördern und auf Dorfaufgaben vorzubereiten. Mit langwieriger Überredungskunst ist es gelungen, daß sie selbständig Verantwortung für klar umgrenzte Aufgaben übernehmen – ohne Beaufsichtigung von Sona und Boro und Snehadri. Überredungskunst bedurfte es nach zwei Seiten: die Senioren mußten bereit sein, Verantwortung abzugeben (und das heißt auch: Macht abzugeben) und den Jüngeren zu vertrauen; und die Jüngeren mußten ihre Ängstlichkeit und Unsicherheit überwinden und Verantwortung annehmen, mit ihren Konsequenzen, nämlich vor allem Kontinuierlichkeit zu zeigen, auch das Risiko einzugehen, Fehler zu machen und einzugestehen.
Nach gut einjähriger konsequenter Bemühung haben die sieben Männer, junge Lehrer und Studenten aus Bishnubati und Ghosaldanga, bewiesen, daß sie ernsthaft sind und fähig sind, verantwortliche Arbeit zu leisten. Sie überwachen die fünf Abendschulen, in denen in ebenso vielen Dörfern die Schüler und Schülerinnen ihre Hausaufgaben unter Aufsicht eines Lehrers machen. Sie gestalten selbständig Feste. Sie beaufsichtigen die jüngeren Studenten, die Stipendien bekommen, damit sie ihre Stipendien sinnvoll anwenden (und keine Mobiltelefone damit kaufen).
Manchmal schlägt aber die angeborene Sorglosigkeit durch. Eine der Aufgaben, die die Junior Leaders angeommen haben ist, unsere deutschen Voluntärinnen, die einige Monate in unserer Santal-Schule, dem Rolf Schoembs Vidyashram (RSV), und in Ghosaldanga oder Bishnubati mitarbeiten, vom Flughafen in Kalkutta abzuholen und nach Santiniketan zu begleiten. Von den sieben wollten diesmal Ramjit die Aufgabe übernehmen, der schon erfahren war – und Mona, der den Flughafen noch nicht gesehen hatte und „eingearbeitet“ werden sollte. Die beiden reisten mittags los. Als Mona schon im Zug saß, rief er den Lehrer Boro in RSV an, dass er morgen nicht unterrichten könne. Boro erstaunte:
„Aber das mußt du vorher sagen, du wußtest doch schon ein paar Tage vorher, daß du abwesend bist.“
„Hm“, machte Mona nur, ebenso erstaunt.
„Wir müssen nach einem Ersatz suchen, wir können die Kinder nicht einfach herumlaufen lassen, oder?“
„Nein, das nicht.“
„Und wo übernachtet ihr?“
„Wir dachten, daß wir bei Asha in Bandel unterkommen.“ [Asha ist Boros Frau und wohnt in der Nähe von Kalkutta, wo sie an einer Schule unterrichtet.]
„Aber ihr habt mich nicht informiert, Asha nicht informiert. Ihr könnt doch nicht einfach hereingeweht kommen. Nein, nein, sucht euch ein anderes Quartier.“
Eine Stunde bevor sie die Stadt Bandel, die eine Zugstunde von Kalkutta entfernt liegt, erreichten, klingelt wieder das Telefon. Sie wüßten nicht, wo sie nachts bleiben könnten.
Boro hatte längst bedauert, daß er so streng mit seinen Junioren umging, hatte Asha angerufen und die Ankunft der zwei Dorfjungen angekündigt. Also gut, gab Boro nach und lud die beiden ein. Asha machte sich ans Kochen, schickte Ipil, die älteste Tochter noch schnell zum Geschäft, um ein halbes Hühnchen zu kaufen.
Angekommen, fühlten sich Ramjit und Mona in ihrer Wahl bestätigt. Alles war doch vorbereitet, sie bemerkten keine Probleme. Eine Dorffamilie muß immer auf Verwandtschaftsbesuch gefaßt sein; es gehört zum Santalleben, die Gäste spontan und mit Freude aufzunehmen. Boro und Asha aber leben in Bandel nicht mehr wie im Dorf; sie sind in die untere Mittelschicht aufgerückt. Dadurch steigen die Ansprüche, auch die gesellschaftlichen Rücksichten und Pflichten. Schlicht zu teilen, was gerade im Hause ist, auf einer Matte auf dem Fußboden zu schlafen, genügt nicht mehr. Also soll der Gast sich anmelden, damit für ihn gekocht und sein Bett gerichtet wird.
Totan. – Er ist in Spanien bei Professor Paz und hat igendeinen Kurs belegt. Er komme erst im Dezember wieder nach Santiniketan zurück, sagt er am Telefon. Jaja, er vergesse Santiniketan nach und nach. Hier habe er viele Freundinnen, nein, nicht nur eine – viele, viele! Ich hatte Totan angerufen, um von Professor Paz eine Information zu erhalten, die unser Projekt über Tagores globale Wirkung betrifft. Als er merkte, daß ich aus Indien zu ihm sprach, ereignete sich eine kleine Eruption der Freude. Er fragte ein Dutzendmal, wie es mir gehe, ohne auf eine Antwort zu warten. Keman achchen, keman achchen, Martin-da, keman achchen? Er schlug verbale Purzelbäume der Begeisterung, der Dreiundzwanzigjährige aus einer bescheidenen Familie in Santiniketan. Seine Eltern betreiben eine Eßbude, ein Straßenrestaurant für die Studenten, die am Abend lärmend auf Bänken am Straßenrand sitzen und alu-chop essen, frittierte Kartoffelbällchen futtern und milchigen, überzuckerten Tee aus Pappbechern schlürfen. Das ist das Einkommen der Familie.
Durch Zufall geriet er an den Tagore-Forscher José Paz Rodriguez, einen Galizier, der nach seiner Emeritierung jeden Winter einige Monate in Santiniketan wohnt. Er spricht weder Englisch noch Bengalisch. Seine Kenntnis über Tagore beschränkt sich auf die Übersetzungen in Spanisch und Portugiesisch. Er fand in Totan den richtigen jungen Mann, der auf seinen Vorschlag Spanisch lernte, büffelte und sein Ziel mit Elan verfolgte und inzwischen den Professor als Übersetzer begleitet. Totan ist schon den dritten Sommer in Spanien, um dem Professor zu helfen. Totans großes Plus: Seine ganze Kraft hat er auf eine Aufgabe gerichtet: Spanisch lernen! Als begeisterungsfähiger, kindlicher, idealistischer Junge ist Totan in Europa überaus beliebt, denn wo gibt es noch so viel Jugendlichkeit in Europa, wo viele mit zwanzig schon blasiert und übersättigt sind? (…)