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TAG 1 – Der unerwartet große Durst

Im Süden: Zu Fuß unterwegs
TAG 1 – Der unerwartet große Durst

TAG 1 – Der unerwartet große Durst

In diesem warmen und trockenen Jahr, als der Sommer nicht enden will, ziehe ich an einem Sonntag im Oktober die Haustür hinter mir zu, schließe die Tür ab, schultere den Rucksack und gehe mit meinem Hund zu Fuß über Land nach Osten. Ich habe mir eine Woche Zeit genommen: eine Woche keinen Computer und ein Leben ohne Internet. Eigentlich will ich den Feldweg nehmen, der direkt hinter dem Haus beginnt und in die Natur führt oder das, was davon noch nach dem großen Waldbrand von 2018 übrig geblieben ist.

 

Denn nach ein paar Kilometern gibt es diesen versteckten Wasserfall, den nur ganz wenige Menschen kennen und der sein kühles Naß aus neun Metern Höhe wie eine Dusche in ein Naturbecken gießt. Dort kann man ungestört schwimmen gehen und sich wie Adam und Eva fühlen. Fließt der Bach noch? Der Feldweg führt querfeldein durch Täler, die bei uns Barrancos genannt werden und wieder hinauf über die Hügel des Vorgebirges. Hinauf, hinunter und drumherum: das sind Fußwege, die nur wenige Eingeweihte kennen. Die Barrancos verlaufen geografisch von Nord nach Süd und in ihnen fließen Gebirgsbäche zu Tal. Aber weil die Wanderung an einem Sonntag im Herbst beginnt, sind dort auch die Jäger an dem vom Gesetz zulässigen Jagdtag unterwegs. In der Ferne hört man sie seit Sonnenaufgang schiessen: bumm bumm. Als käme die Front langsam näher. So gehe ich dem Risiko aus dem Weg, mit meinem Hund vor ein mit Bleischrot geladenes Gewehr zu laufen. Wir nehmen von Caldas bis Fornalha den geteerten Weg. Das sind sechs Kilometer.

Schon nach kurzer Zeit treffen wir auf ein paar Ziegen unseres Nachbarn Zé Eduardo. Er geht mit seiner bunt zusammengewürfelten Herde auch über Land und kommt uns mit den Ziegen und ein paar Hunden entgegen. Auch er nimmt den geteerten Weg, an dem die Tiere rechts und links des Wegesrandes genußvoll die Kräuter zupfen und sich Gräser fressend auf uns zubewegen. Autos? Fehlanzeige. Ein menschenleerer Weg, der von West nach Ost führt vorbei an den letzten bewohnten Häusern. Manchmal muss ich mich davon überzeugen, dass es wirklich noch so etwas wie die Natur um mich herum gibt, zu der ich mich zugehörig fühlen kann. Denn ein Journalist sollte so oft wie möglich sein Büro verlassen, der virtuellen Welt entfliehen und in die Wirklichkeit eintauchen. Das ist über viele Jahrzehnte mein Leitsatz in meinem Beruf. Deshalb grabe ich in meiner freien Zeit auch mit den Fingern in der Erde, baue eigene Kartoffeln und eigenes Gemüse an, betreibe so etwas wie Permakultur. Ich möchte mehr können als eben nur Geschichten schreiben.

 

TAG 1

Der unerwartet große Durst

Die Ziegen kommen direkt auf uns zu. Max, Wegbegleiter und Hund, mit dem ich seit sechs Jahren eng befreundet bin, kennt das Prozedere bereits und ich bitte ihn mit einer Handbewegung, sich zu setzen. So bringt er keine Verwirrung in die kleine Herde. Wir beide stehen still am Wegesrand und warten geduldig ab, um zu schauen, wohin die Ziegen nun zu gehen gedenken. Einige kehren um, andere weichen uns aus und ein paar bewegen sich neugierig auf uns zu. Die Herde scheint auseinanderzubrechen. Der Schäfer steht im Schatten einer Korkeiche und beendet gerade ein Telefonat. Auch ein Teilzeitschäfer hat seine Tiere immer im Blick. Laut Anweisungen gebend, motiviert er seine Tiere, uns zu passieren und so nehmen die Ziegen wieder die Richtung auf, uns irgendwie zu umgehen, um hinter uns zu kommen. Die Hunde helfen ihm beim Hüten der Ziegen. Wir selbst gehen auch weiter.

Neugierig, wie Nachbarn sein können, fragt er „und, wohin des Weges?“ Ich nenne ihm die spanische Grenze als Ziel unseres mehrtägigen Fußweges, etwas mehr als 180 km. Einige Tage wollen wir gehend das Land durchqueren, die Auswirkungen der Dürre messen und fotografieren und während der Tour Eicheln und andere Samen sammeln für das Pflanzen von neuen Bäumen in unserem nach einem Waldbrand schwer in Mitleidenschaft gezogenen Wald. Der Herbst ist dafür die perfekte Jahreszeit. Ich habe zuhause eine kleine Baumschule eingerichtet und viele kleine Bäumchen stehen in Pötten bereit, im Winter in unserem neuen Waldgarten ausgepflanzt zu werden – da, wo vorher große und alte Bäume im Feuer verbrannten. Einige haben wir retten können. Das alles haben wir aufgeräumt und nun kann mit der Bepflanzung von neuen jungen Bäumen begonnen werden. Genetische Vielfalt in die Flora zurückzubekommen funktioniert nur, wenn Samen und Eicheln von vielen unterschiedlichen Baumarten aus anderen Regionen an einem Ort wieder zusammengetragen werden und dort wachsen können. Dann kommen auch die Vögel zurück und mit ihnen andere Tiere. Sie haben dann Nistplätze und einen sicheren Rückzugsort. Einer dieser heimischen Vögel ist bei uns der Bonelli Adler, eine geschützte Greifvogelart. Wenn es nur endlich mal wieder richtig regnen würde! Stattdessen scheint die Sonne den lieben, langen Tag und produziert Wärme und Trockenheit: für die Jahreszeit einfach viel zu warm. Bäume pflanzen kann man nur in feuchtnasser Erde, damit die Wurzeln Halt, feuchte Nahrung und die darin gelösten Mineralien finden können. Pflanzzeit ist Dezember und Januar.

 

Bis vor Anbruch des nächsten Sommers müssen die neugepflanzten, kleinen Bäume die Zeit nutzen, ihre Wurzeln so tief in die Erde zu treiben, daß sie auch in der mehrmonatigen Trockenzeit des Sommers noch feuchte Erde in tieferen Schichten finden. Oder man muss sie den Sommer über künstlich bewässern, was andere Risiken und Gefahren mit sich bringt. Es ist jetzt Ende Oktober und die Regenzeit hätte längst schon beginnen müssen – so wie jedes Jahr, aber es will einfach noch kein Regen fallen und so verzeichnet der Kalender seit Mai den sechsten Monat in Folge ohne Niederschläge. Die Sommer werden länger, die Winter kürzer. Der Nachbar mit seinen Ziegen wünscht uns eine schöne Zeit, nicht ohne anzumerken, daß er gern mitkommen würde. Er habe aber zu viele anderweitige Verpflichtungen in Beruf und Familie, also keine Zeit.

Wir machen uns auf den Weg und überschauen die tiefer liegenden Hügel der Algarve. Die Sicht und das Panorama auf den Atlantik sind ein einzigartiges Wanderkino bis zum Horizont. Bis zum Meer sind es noch fünf bis sechs Stunden zu Fuß bergab und Silves, das Ziel unseres ersten Tages, versteckt sich hinter einem Geflecht aus Hügeln vor dem Meer. Es liegt im Binnenland.

Der Mensch geht, wenn er sich normal fortbewegt, mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von drei Kilometern in der Stunde. Wir befinden uns in einem Gelände, das einmal von der EU als Netzwerk Natura 2000 deklariert wurde. Rechts und links des Weges und das Gebirge hinauf, sind Bestandteile geschützter diverser Natur. Rund 80% des Gebirges von Monchique wurde so zum Netzwerk Natura 2000, in dem sich weder Eukalyptus Monokulturen noch invasive Baumarten wie Akazien befinden dürfen.

 

Monocultura de eucalipto em área de Rede Natura 2000

Wer also hat hier die Monokulturen in industrieller Form terassenförmig angepflanzt und diese genehmigt? Soweit das Auge reicht, wächst hier nur noch Eukalyptus als einzige Baumart, die alle acht bis neun Jahre gefällt wird, um daraus Papier herzustellen, oder auch mal eben abbrennt und viel Zerstörung hinterläßt. Brennen Eukalpyptus- und Akazienforste lichterloh, kommen beide Baumarten tausendfach schon im nächste Jahr wieder und verdrängen dabei andere Baumarten, denn sie schießen ihre feuerresistenten Samen bis zu hundert Meter durch die Luft. Das ist die Art, wie sich invasive Gewächse fortpflanzen.

Screenshot: https://natura2000.eea.europa.eu (Monchique PTCON0037)

„Das Netzwerk Natura 2000 erstreckt sich über 18 % der Landfläche der Europäischen Union und über mehr als acht Prozent ihres Meeresgebiets. Es ist das größte koordinierte Netz von Schutzgebieten der Welt. Es bietet einen Zufluchtsort für die wertvollsten und bedrohtesten Arten und Lebensräume Europas,“ lese ich. Was genau passiert also hier in Monchique? Die Papierindustrie Portugals in Zusammenarbeit mit Behörden und Regierung hat sich speziel hier einen rechtsfreien Raum geschaffen und das Gebiet mit dem SITECODE PTCON0037 klammheimlich über viele Jahre in ein Industrieforst für Eukalyptus, aus dem Papier gewonnen wird, transformiert. Der Wald, ein  Ressourcenspender?

Wenn Eukalyptus geerntet wird, treiben aus den nackten, abgeschnittenen Stümpfen nach ein paar Wochen bereits neue Sprossen, die sich in Art und Form eines Perpetue Mobile zu einem neuen Stamm mit Ästen und neuen Blättern entwickeln. Nichts kann den Eukalyptus dabei aufhalten, außer man reißt einen jungen Baum mit den Wurzeln eigenhändig wie Unkraut aus der Erde. Eukalyptus ist die stärkste Baumart unter allen bekannten Bäumen in Europa. Sie wächst schneller, ihre Tiefwurzeln erreichen das Grundwasser und die saugen die Böden trocken. Andere, heimische Baumarten kommen da gar nicht erst mit. Sie sind viel langamer und genügsamer. Ich habe mir das viele Jahre lang jeden Tag in der Praxis angeschauen müssen. Alles um den gepflanzten Eukalyptus herum bleibt auf der Strecke und vertrocknet im Laufe der nächsten Jahre. Keine anderen Baumarten wachsen noch dort, wo bereits Eukalyptus angepflanzt steht – außer – ja außer einer anderen invasiven, einer eingeschleppten afrikanischen Baumart, die Akazie. Sie ist ähnlich gefährlich für die semitrockene Vegetation der Algarve. Es regnet ja nur im Winter und das Land ist dann monatelang über den Sommer trocken.

Das Regenwasser des Winters muß den ganzen Sommer über ausreichen. Also speicherte man früher das Regenwasser des Winters in Zisternen, so das man auch Wasserreserven für die Sommerzeit hatte. Akazien aber sind Tief- und Flachwurzler gleichzeitig und holen sich das letzte Wasser aus allen Erdschichten, wo junge heimische Bäume, wie Korkeichen, Kastanien und Schirmpinen erst nach Jahren des langsamen Wachstums hinkommen. Akazien holen aus ungeahnten Tiefen des Bodens das Grundwasser zum eigenen Nutzen. Industriegiganten wie The Navigator Company und Altri überziehen Portugal mit Eukalyptus, weil das die Masse ist, aus der Papier hergestellt wird. Über eine Million Hektar Forst hat die Papierindustrie auf diese Weise bereits in Portugal transformiert, autochthone Baumarten gefällt und stattdessen Eukalyptus angepflanzt. Eukalyptus aber hat noch eine andere Eigenschaft, die native Bäume nicht besitzen: es verstärkt einen Waldbrand mit seinen ätherischen Ölen und brennt wie Benzin.

Acácias e eucaliptos

Hat ein Waldbrand erst einmal einen Eukalyptusforst erreicht, ist es mit dem Löschen meist vorbei. Der Kommandant der Feuerwehren hatte mir das auf einem Publik Hearing 2019 öffentlich so erklärt, daß man einen industriellen Eukalyptusforst, der erst einmal Feuer gefangen hat, kaum mehr mit Wasser gelöscht bekommt. Eukalyptus erstreckt sich über viele Quadratkilometer in Monchique.

Über uns steht der Gipfel des Picota auf 776 Höhenmetern. Manchmal wird er sichtbar, dann versteckt er sich wieder zwischen zwei Tälern. In einem solchen Barranco entsteht gerade unser Botanischer Waldgarten mit einer Vielfalt von mehreren hundert einheimischen Baumarten. Mit diesem Pilotprojekt bilden wir den heimischen Wald ab, so wie er einmal vor den Waldbränden war, so wie im Netzwerk Natura 2000 beschrieben. Ein Naturmuseum?

Wir gehen von West nach Ost auf 300 Höhenmetern. Bis nach Fornalha sind es immer noch eineinhalb Stunden. Dort gibt es den ersten öffentlich zugänglichen Wasserplatz. Meine Idee ist, von einer Quelle zur anderen zu gehen, damit auch mein Hund genug zu trinken bekommt. Ich selbst habe in meinem Rucksack zwei große Wasserflaschen, Nahrung für einige Tage und Kleidung zum Wechseln verstaut. Denn es gibt weit und breit kein Lebensmittelgschäft auf unserer Route.

 

Estrada em mau estado

Erst am Abend, wenn wir in Silves ankommen, tauchen wir wieder in bewohnte Regionen mit Cafés, Restaurants und Lebensmittelgeschäften ein. So ein Rucksack für Weitwanderungen hat ganz unterschiedlichen Stauraum: da passen griffbereit zwei Wasserflaschen rechts und links in zwei Fächer und ganz unten habe ich meinen Schlafsack verpackt. Weiter oben befindet sich eine zweite Hose, mehrere T-shirts und Unterwäsche, Pullover und eine kleine Wanderapotheke. Statt Shampoo und Duschgel benutze ich Olivenseife, die biologisch abbaubar ist und von einer Seifenmacherin lokal hergestellt wird. Pflaster, Verbände, Mullbinden und Desinfektionssalbe gehören ebenso dazu wie eine Schere und verschiedene Schmerztabletten und eine Wundsalbe aus Calendula.

Es ist ein heißer Herbsttag und bis zum Erreichen des Dorfes Fornalha beginnt die Zeit, in der ich endlich in meinen Schrittrhythmus falle, in dem Gehen um ein Vielfaches einfacher wird, wenn es synchron mit der Atmung geht. Der geteerte Weg ist von Schlaglöchern der letzten Rallye des Vilamoura Casinos gezeichnet, die hier einmal im Jahr mit ihren aufgemotzten Autos durch die Kurven preschen – und von wildem Eukalyptus und Akazien gesäumt, der sich nach jedem Waldband unkontrolliert weiter vermehrt und ausbreitet als wolle er das ganze Land besitzen. Artenvielfalt des geschützten Netzwerkes Natura 2000 jedenfalls sieht anders aus, brumme ich in meinen Bart. Brüssel sollte mal einen Inspektor auf Ausflug in die entfernten Provinzen schicken und sich selbst ansehen, wie seine Schutzgebiete in Wirklichkeit aussehen.

Vom früheren Wald und seinem Biotopen keine Spur. Brüssel ist weit und Papier eben geduldig, denke ich mir. Die Waldbrände, die hier 1991, 2003 und 2018 durchgezogen sind, haben ganze Arbeit geleistet. Sonne und Wind haben danach den Boden erodieren lassen und die fruchtbarsten Erdschichten bereits weggeweht. Die Menschen, die hier früher einmal wohnten, sind seit vielen Jahren in die Stadt weggezogen oder eben auch verstorben und mit ihnen geht wertvolles  Wissen verloren, das einer neuen Generation heute fehlt. Die Eigentumsverhältnisse werden mit der Zeit auch immer unklarer, weil sich keiner mehr für das Land verantwortlich fühlt und langsam verfallen die Häuser und das Unterholz wächst in ungeahnte Höhen: Nährboden für weitere Waldbrände. Ein Teufelskreis. Niemand kontrolliert das Gebiet PTCON0037 und niemand will hier noch etwas in eine nachhaltige Entwicklung investieren, da Naturschutz immer wieder mit industrieller Ausbeutung kollidiert.

Am Anfang, also westlich von Fornalha erwartet den Fußgänger eine Sitzbank und ein Wasserhahn im Schatten eines Johannisbrotbaumes. Ein paar Familien teilen sich diesen Flecken. Eine alte ausgemusterte Werkbank mit Sägewerk, am Straßenrand abgestellt, ist jedem Vorbeikommenden ein Zeitzeuge, daß hier früher mal ein Schreiner eine florierende Werkstatt betrieben hat. Und was braucht ein Wanderer mehr als gutes Wasser zum Trinken und eine Bank zur Rast? Ein kleines Schild warnt jedoch vor dem Konsum des Quellwassers. Es sei ungeeignet für den menschlichen Gebrauch. Max ist das egal, was auf dem Schild steht. Er ist so durstig, daß er das Wasser aus dem Becken säuft, bis ich ihn davon abhalten kann. Auf dem Weg taucht ein weiterer Wanderer auf. Wir stellen einander vor. Es ist Tom. Er kommt aus England. Da er freundlich zu dem Hund ist und auch Max ihn anwedelt, beschließen wir, uns den Weg zu teilen, zumal wir beide heute noch bis nach Silves kommen wollen. Auch Tom hat zu wenig Wasser mitgenommen und braucht erst einmal frisches Trinkwaser. Er bittet den ersten Menschen im Dorf darum, ihm mit etwas Wasser die Flasche wieder aufzufüllen. Eine Frau kommt mit einer großen Plastikflasche aus dem Haus und schenkt ihm ein. Da das Wasser der Quellen des Dorfes seit ein paar Jahren nicht mehr zum Trinken geeignet sei, gibt die Gemeindeverwaltung jedem Einwohner von Fornalha pro Woche eine Wasserflasche, die fünf Liter faßt, „zum menschlichen Verzehr“, wie es der Bürgermeister in einem Edital ausdrückt.

Das Wasser der Quelle hingegen verursacht bei Max sofort Durchfall. Bedenklich. Was war hier in Fornalha passiert, daß selbst das pure Quellwasser nun ungenießbar ist?

Die meiste Zeit sind wir allein. Kein Einheimischer bewegt sich hier zu Fuß über Land. In zwei Stunden kreuzen zwei einsame Autos unseren Weg. Dann sind wir wieder allein. Hoch oben fliegt ein Flugzeug im blauen Himmel und hinterläßt ein weißes Band. Wegen der baldigen Landung in Faro setzt es zum Sinkflug an. Das ändert den Sound der Triebwerke. Das Hinterland der Algarve liegt verlassen vor uns. Mit jedem Kilometer erkennen wir die Dimension des Problems. Landflucht. Nicht einmal ein Tier zeigt sich. Wenn nicht die Jäger unterwegs sind, dann lauert die nächste Gefahr hinter der Dürre und dem Eukalytus: die Waldbrände. Es ist Mittag geworden. Selten noch gibt es auf diesem Flecken ein bewohntes Haus. Irgendwann ist auch das zu Ende. Die meisten Gebäude stehen leer und verfallen. Nur hin und wieder hören wir ein paar Schüsse aus der Ferne. Die Herbstsonne scheint durch die eingestürzten Dächer der Ruinen. Die Straße ist ein graues Band, hier und da von Löchern unterbrochen. Niemand, wirklich niemand geht an diesem Sonntag zu Fuß über Land nach Osten, nur zwei seltsame Ausländer mit einem Hund, denkt sich vermutlich die Frau aus Fornalha. Sie aber traut sich das nicht direkt zu sagen, und doch steht es ihr ins Gesicht geschrieben. Wofür hat man das Rad erfunden, wenn man die Füße benutzen muß. Sie schüttelt nur den Kopf, als wir sagen, wohin wir heute noch gehen wollen und zu Abend einen Schlafplatz zu suchen gedenken… Als ob wir nichts Besseres zu tun hätten, als über Land zu gehen, wo nichts los zu sein scheint. Nur Fliegen und Flugzeuge mit Frischfleisch, ein Begriff für neue Urlauber, kreuzen den Weg. Von Fornalha nehmen wir die verlassene Straße nach Laranjeira im Süden, bis wir in einen Seitenweg abiegen und hinunter auf den Staudamm und den Odelouca-Fluß zuhalten. Der Boden ist steinig und abschüssig. Und noch immer säumen Monokulturen unseren Weg. Monchique endet am Fluß, hier beginnt der Landkeis Silves.

 

Tom ist ein Suchender wie ich. Er arbeitet bei Silves als Wooffer auf einem Bauernhof. Wir reden nicht viel. Er ist vor ein paar Tagen zu Fuß von Silves nach Monchique hoch gestiegen und nun ist er wieder auf dem Rückweg. Er sucht ein fruchtbares Grundstück, denn er hat vor, England den Rücken zu kehren und in Portugal ein Haus zu erwerben. Etwas besseres, als zu Fuß die Landschaft zu durchstreifen und zu betrachten und hier und dort anzuhalten, um die Wassersituation zu prüfen, kann ihm gar nicht passieren. Wer hier im wilden Westen Europas ein Grundstück kauft, braucht Wasser, eine Quelle oder eine Wassermine, denn Wasser ist alles und ohne Wasser ist alles nichts. Zeitgleich verringern sich auch unsere Wasservorräte während des Fußmarsches. Es scheint, als hätten wir uns nicht genügend Wasser mitgenommen und bekommen richtigen Durst. Beim Überqueren der einzigen Brücke, die es über den Odelouca-Fluß hier oben gibt, verlassen wir das Monchique Gebirge. Bis nach Silves sind es noch 15 km, also mindestens fünf Stunden „spazieren gehen“. Der Anstieg zu einer weiteren Hügelkette beginnt, dem Vorgebirge. Zu Abend, voraussichtlich kurz nach Eintreten der Dunkelheit werden wir Silves erreichen, falls wir noch irgendwo frisches Wasser auftreiben.

Max, halb Schäferhund, halb Refeiro Alentejano ist ein schlaues Tier. Um seinen Durst unter Kontrolle zu bringen, läuft er immer vor mir und wartet dann ein paar Momente im Schatten eines Medronheiro-Busches. Das ist ein ernstes Zeichen für seinen Durst. Hunde seiner Art sind immer achtsam unterwegs, hüten Schafe und beschützen den Menschen. Sie sind wie Waldläufer, immer ein paar Schritte voraus, um die Umgebung zu peilen, und wenn die Luft rein ist, kommen sie zurück und machen sich wieder auf den Weg nach vorn. Max läuft die Strecke, die ich gehe, doppelt. Sind es bei mir am Ende des Tages 25 Kilometer, läuft Max mindestens 50, immer hin und her, vor und zurück. Wenn Max sich nun Schatten sucht, ist das ein ernsthaftes Zeichen dafür, daß er Weg sparen muß, müde und durstig ist. Ich gebe ihm von meinem Wasser, das er gierig trinkt. Dann treffen wir in der Einsamkeit auf ein Haus mit einem wunderbaren Gemüsegarten und Wasser. Viele ältere Einheimische sind wahre Meister in der Subsistenzlandwirtschaft. Sie nehmen den Dung ihres Esels und machen die Erde sämig. Sie halten ein paar Ziegen und haben immer Milch und Käse im Haus. Die Hühner laufen frei herum und düngen das Land. Und wieder kommt eine Frau mit einer Fünfliterflasche aus Plastik und schenkt uns ein. Ich habe einen faltbaren Napf für Max im Rucksack und den gießt sie randvoll. Durst beginnt sich in eine echte Qual zu verwandeln.

Weiter geht es den Weg der hier auf einen alten Pilgerweg führt, der sich heute Via Algarviana nennt und seit dem vierten Jahrhundert der alte Vinzenzweg ist. Er führt vom spanischen Valência durch den ganzen Extremadura bis ins portugisische Mertola, bevor die Pilger über Alcoutim und Cachopo, Salir und Alte nach Silves und Monchique gelangen und von dort bis ans Ende der alten Welt nach Sagres und ans Südwestkap. Wir gehen den Weg rückwärts, in entgegengesetzte Richtung, von West nach Ost. Eine solche Fußreise dauerte manchmal Wochen und gibt jedem genügend Zeit, in sich zu kehren und während des Gehens in den Meditationsmodus zu fallen. Ein Wanderer hat alle Zeit der Welt, sich das Land genauer anzuschauen und alle seine Sinne zu schärfen, die im Trubel einer Stadt abgestumpft werden. Man trifft dabei auf Menschen, die gleiches tun und geht einige Etappen des Wegs gemeinsam. Man trennt sich wieder, wenn einem danach ist und Tom und ich machen genau das jetzt. Wir haben vor, zwei unterschiedliche Routen nach Silves einzuschlagen. Die Sonne geht unter und kurz vor der Dunkelheit kommen zuerst die Windmühle und dann die schwere Burgmauer von Silves ins Blickfeld. Die erste Kneipe, in der wir Getränke und ein Käsebrötchen bestellen, erreichen wir genau bei Einbruch der Dunkelheit. Bis zur Residêncial Vila Sodré und Dona Madalena sind es noch eine gute halbe Stunde. Hier hat das Mobiltelefon wieder Empfang und so kündige ich uns erst einmal an.

Aber wir werden noch einmal aufgehalten. Die erste Eichel einer „quercus canariensis“ finde ich mit dem letzten Licht des Tages bei Senhor Carlos, einem 75 Jahre alten Bauern auf dem Weg kurz vor Silves. Sein Sohn habe fünf Bäume dieser sehr seltenen Eichenart vor dem Haus seines Vater gepflanzt.  Diese fünf Bäume haben keine Wasserprobleme, sie trotzen der Dürre und spenden dem Garten Schatten. Erst sehe ich eine Eichel am Boden liegen, dann noch eine und immer mehr Eicheln finde ich auf dem Weg im Staub. Diese Baumart und ihre Eicheln sind echte Juwelen. Zum Ende des Tages genieße ich die tiefgrünen Bäume mit einem tiefen Seufzer. Gegenüber dem Haus, sozusagen beim Nachbarn, vertrocknen gerade die Blätter der Orangenbäume, fallen die noch nicht reifen, grünen Früchte einfach zu Boden. Wasser? Man hat den Zitrusfrüchten keine Bewässerung mehr geben können, weil das Bohrloch zu wenig Wasser hergibt. In den Bergen rund um den kleinen Vorort stehen die Eukalyptusbäume in Reih und Glied wie Soldaten eines großen Regimentes. Im Süden Europas wird die Wasserfrage schon bald zu einer echten Überlebensfrage, wenn nicht bald ein Umdenken beginnt. Mit Bulldozern und Raupen wurden hier die Hügel terrassiert und den schädlichsten Baum aller Bäume in Reihen gepflanzt. Ein dreijähriger Eukalyptusbaum säuft während seines Wachstums bis zu 60 Liter pro Tag und wächst dann bereits in einer Höhe von sechs bis neun Metern ganz gerade in den Himmel. Die Tonne Holz, des nach neun Jahren gefällten Baumes bringt zur Zeit nur noch 16,75 Euro. Ehemals, in den Hochzeiten vor den Krisen, waren es noch 40 Euro. Ich schüttele den Kopf. Viele Leute haben hier vermutlich nie Rechnen und Schreiben in der Schule gelernt. Was bringt Eukalyptus, was andere Bäume nicht einbringen? Schon ein frisch gepflanzter Kirschbaum bringt nach fünf Jahren mehr Einnahmen als ein Eukalyptusbaum: auch Kastanien, Johannisbrot- und Feigenbäume, die hier heimisch sind. Man kann sich nicht hunderte von Jahren so grundlegend geirrt haben, nur weil jetzt eine Industrie viele Steuern mit der Produktion und dem Export von Papier an den Staat zahlt.

Ich ausländischer Beobachter, der hier nun länger als 30 Jahre den Leuten beim Leben zuschaut und ihre Sprache verstehen gelernt hat, halte es eher mit langsam wachsenden heimischen Bäumen, mit Johannisbrot-, Oliven-, Maulbeer- Feigenbäumen und mit Korkeichen. Ein Schirmpinienhain ist auch etwas sehr Schönes, auf jeden Fall Mischwald. Und ganz besondere Bäume sind jene Eichen mit dem botanischen Namen „quercus canariensis“… Ich frage den alten Mann, ob ich ein paar von ihnen aufsammeln darf und bekomme zur Antwort: „Nimm dir soviel du willst, du wirst sie in Monchique brauchen“. So sammele ich fünf Eicheln einer jeden Monchique-Eiche für unsere Baumschule auf. Der Tag zu Fuß hat ein Happy End. Die Stadt Silves und die Zivilisation kündigen sich in Form einer Tankstelle aus dem Nichts an. Die Dunkelheit weicht der Leuchtreklame: ich kaufe uns dort eine Tüte Kartoffelchips und eine große Flasche Wasser. Dann checken wir ein und freuen uns auf unser karges Nachtmahl.

 

Uwe Heitkamp (60)

ausgebildeter Fernsehjournalist, Buchautor und Hobby-Botaniker, Vater zweier erwachsener Kinder, kennt sei 30 Jahren Portugal, Gründer von ECO123.
Übersetzungen : Fernando Medronho & Kathleen Becker
Fotos: Uwe Heitkamp, Henk Hin

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