Ich befand mich auf einer Reise und wurde wach, aber mir war nicht sofort klar, ob ich bereits geschlafen und geträumt, oder aber noch gar nicht geschlafen hatte, ob Traum und Wirklichkeit zwei sich vermischende, gegenseitig überschneidende Zustände sein konnten? Irgendwie hatten sich Bilder und Stimmen in meinem Unterbewusstsein miteinander vermischt. Ich machte Licht und schaute auf die Uhr. Null Uhr fünf. In der Kneipe nebenan lallten Betrunkene miteinander. Eine Straßenlaterne warf ihr gelbes Neonlicht durch die Jalousien in den kahlen Raum, in dem ich auf einer Pritsche Schlaf suchte. Im Halbschlaf war ich durch steinige Mondlandschaften marschiert, mäanderte ein Fluss durch ein Tal, zog ein Schäfer mit seinen mageren Tieren über verbrannte Erde. So begann ich die Tage meiner Wanderung noch einmal ganz genau vor meinem geistigen Auge abzuspulen, setzte Tag an Tag und Bild an Bild und kam zu folgender Geschichte. Sie begann damit, dass sich drei Menschen an einem Montag in Lissabon treffen und mit dem Zug über Coimbra nach Guarda fahren wollten. Dort beabsichtigten sie, mit Linienbus und Taxi nach Foios, einem kleinen Ort an die Quelle des Flusses Côa zu gelangen. Die Drei hatten sich vorgenommen, zu Fuß bis zur Mündung zu wandern. Die Frau und die beiden Männer hatten jeder einen Rucksack gepackt, in denen sie wetterfeste Kleidung, Schlafsack, Wasserflasche, Kompass, Karten, Notverpflegung, eine Apotheke, Regensachen und eine Kamera mit sich führten.
Die „Grande Rota Vale do Côa“ ist 221 km lang. Gegen Ende wird der Wanderer mit steinzeitlichem Graffiti einer 17 km langen begehbaren Galerie unter freiem Himmel belohnt. Auerochsen, Pferde, Hirsche, Steinböcke, Ziegen, Fische… Der Pfad führt immer am Fluss entlang und durch die Natur zu den Felsen von Cidadelhe, Faia Brava und Vila Nova Foz do Côa bis zur der Mündung zum Douro.
Es ist bereits spät am Abend und dunkel, als ich aus dem Taxi steige. Endlich angekommen. Gemeinderat António Lucas, ein kleiner, kräftiger Mann Ende 50, begrüßt uns vor der ehemaligen Grundschule in Foios. Ich zerre meinen zwölf Kilo schweren Rucksack aus dem Kofferraum des Taxis und betrete das gefühlte Ende der Welt. Im Klassenraum stehen für drei Wanderer 30 Feldbetten. Saubere Laken gibt es aus einem Karton im Flur, zwei Toiletten etwas außerhalb des Gebäudes. Es nieselt. António Lucas stellt uns eine Flasche Trinkwasser vor die Tür. Die Logis ist umsonst.
Dienstag. Tag Eins. Ein schöner und sauberer Bach entspringt der Quelle. Wir gehen Feldwege. Alter Kastanien- und Eichenbestand. 1.163 Höhenmeter. Bis zum Dorf Quadrazais sind es 25 km. Irgendwann kommt Hunger. Von Vale do Espinho aus müssen wir zweieinhalb Kilometer auf der geteerten Dorfstraße gehen. Sie gehört nicht zum Wanderweg. Dort treffen wir auf die Forellenzucht Trutalcoa. Das gleichnamige Restaurant bietet eine reichhaltige Speisekarte zu guten Preisen. Von dort aus müssen wir zurück auf die Asphaltstraße und weitergehen. Erst am Hinweisschild zur Kapelle Espirito Santo findet der Wanderer wieder auf die GR Vale do Côa zurück. Ich nehme ein Bad im Wildwasser-Schwimmbad. Mit dem Eintauchen wirbelt das dunkle Wasser an meinem Kopf vorbei und kühlt ihn angenehm. Abtrocknen, anziehen, weitergehen. Eicheln und Kastanien aufsammeln. Termin bei der Dorfältesten von Quadrasais, Silvina Martins. Sie offeriert Übernachtung in der leeren Grundschule: drei ehemalige Klassenzimmer. Betten? Nein. Stattdessen Turnmatratzen. Im Café „Santa Estefánia“ nebenan bestellen wir bei Paula und Lourenço Omelette und Frühstück. Der selbstgebackene Birnenkuchen zum Nachtisch ist der Höhepunkt des Tages. Kälte weckt uns in aller Frühe. Wir sind davon überzeugt, dass Wandern in Portugal seine besten Zeiten noch vor sich hat.
Mittwoch. Tag Zwei. Ziel ist Sabugal. Kühle Morgensonne beleuchtet noch etwas fahl die Wiesen und Hügel, durch die der Fluss stromabwärts fließt und mit ihm der Weg. Dann führt der Wanderweg bergan und hinauf in die Serra da Malcata zum Alto da Machoca. Aussichtspunkt mit Rundumblick. Schwitzend und im Rhythmus der Schrittfolge atmend, steigen wir die 252 Höhenmeter zum Gipfel. Im Südwesten steht das Gebirge der Serra de Estrela am Horizont. Im Norden liegen die Stauseen des Côa bei Sabugal, im Osten die spanische Grenze. Der Fluss wird hier zur Talsperre. Riesige Landzungen ragen aus dem Wasser. Der Wasserpegel steht durch die extreme Trockenheit des letzten Sommers sehr niedrig. Vom Gipfel führt der Weg bergab ins Dorf Malcata. Im Dorfbrunnen schwimmen sieben Karpfen. Der Wanderweg führt weg vom Dorf zu einem schönen Picknickplatz mit Kapelle und dann im Zickzack an den Ausläufern des Stausees entlang bis Sabugal. Wieder 25 km. Nun ist der Côa ein Fluss. Wir laden die Rucksäcke im Hotel ab. Auf der Suche nach einer Futterkrippe, lande ich bei Barbier Carlos, der mir die Haare scheidet.
Donnerstag. Tag Drei. Ziel ist Rapoula do Côa. Morgens Frucht- und Gemüsemarkt. Gehwütig folgen wir dann den rotweißen Markierungen aus Sabugal heraus. Wir laufen vor uns hin, den Sinn für das Schöne miteinander diskutierend, in eine völlig falsche Richtung. Nach zwei Stunden merken wir, dass die rotweißen Markierungen des Weges nicht unseren Weg markieren, sondern einen anderen. Nun stehen wir im Wald. Was tun? Zurück zum plätschernden Wasser des Côa und seinem kurvigen Flussbett. Karte zur Hand nehmen, sich neu orientieren. Eine Stunde lang gehen wir über Nationalstraßen, Feld- und Wirtschaftswege. Dann ist er wieder da, unser Fluss. Rast auf der Brücke an der Wassermühle. Wir teilen uns Brot, Käse, Schinken und die Früchte. Herbsttage. Altweibersommer. Der Weg ist voller Laub und Kuhfladen. Wir stoßen auf wiederkauende, weidende Wesen auf dem 17 km langen Uferpfad. Wassermühlen und dunkles Gewässer, das langsam dahinfließt. Schattige Wege und mehrere Gatter, die wir öffnen und wieder schließen. Der Tag endet im „Refúgio do Campo“ bei Dona Otília Inácio. Sie bietet uns etwas, was immer kostbarer wird. Ruhe und Geborgenheit. Ein schöner Ort, um zu verweilen.
Jeder Weg ist eine Geschichte und Wege verbinden Menschen und Orte mit ihren Geschichten. Wer zu Fuß unterwegs ist kann fühlen, wie Wald, Wetter, Fluss, Felder, Hügel, Dörfer und die dahin führenden Wege sich entwickeln. Mit jedem Schritt schärfen sich die Sinne. Innere Betrachtung wird Teil des Gehens. Wer wandert, kommt zur Ruhe.
Freitag. Tag Vier. Ziel ist Vilar Maior. Bis Seixo do Côa verlassene Ruinen und stehengebliebene Kirchturmuhren. Nur noch zwei Mal am Tag die genaue Zeit. Viele neue Häuser sind unbewohnt. Wo sind die Menschen? Keine Kinder. Geschlossene Schulen. In den Dörfern ist die Zeit stehen geblieben. Auch die Uhrmacher haben sich aus dem Staub gemacht. In der Not orientiert man sich akustisch. Zu jeder vollen Stunde erklingt eine Melodie aus dem Lautsprecher der Kirche. Wie beim Muezzin. Er verfolgt uns Tag und Nacht. Wie die Vierbeiner. Schnell lernen wir, Hunde die beißen, bellen nicht. An der mittelalterlichen Zollbrücke „Ponte de Sequeiros“ Rast. Käse, Sardinen, Brot. Früchte und Schokolade. Dann Badamalos. Die Burg von Vilar Maior schon sichtbar. Tafeln am Weg gedenken Zweier, die auf der Straße umgefahren wurden. António Cunha begrüßt uns herzlich. Er lädt ein, die Nacht auf dem Dachboden des Gemeindehauses zu verbringen. In Lissabon habe man sein Dorf vergessen. Viele Häuser verfielen, sagt er. Erst einige seien in privater Initiative wieder aufgebaut worden. Wetterleuchten in der Ferne. Alles an diesem Dorf, in dem noch 68 Menschen leben, ist Film: mittelalterliche Brücke, Gassen und Kirche, das Kastell. Nur die Duschen im Tageszentrum der Caritas für ein Euro fünfzig und das Abendessen für sechs Euro bringen uns zurück in unsere Zeit. 18 km.
Samstag. Tag Fünf. Bis Castelo Mendo sind es 22 km. Geschlossene Wolkendecke, die der Wind zerpflückt. Das alte Kopfsteinpflaster bringt uns zurück zum Fluss. Immer abwärts zuerst am rechten, später am linken Ufer. Langsam mäandert er nach Norden. Langsam entfernen wir uns von ihm. Der Pfad unterquert die Gleisanlagen des „Nachtzuges nach Lissabon“. Gärten mit Walnuss- und Quittenbäumen, Rebstöcken und Apfelbäumen. Die ersten Regentropfen fallen nachmittags. Ein fulminanter Aufstieg an Korkeichen vorbei endet unterhalb der Burgmauer im Hausmüll von Castelo Mendo. So erreichen wir das „Casa do Côrro“, ein historisches Haus, dessen Restaurierung zu einem Großteil öffentlich gefördert wurde. Kein Land für junge Menschen. Ich frage mich, welche Zukunft hat dieses Dorf? Der Dorfpranger steht unterhalb der Kirche. Fein restauriert. Alte, kranke Leute. Schilder „Haus zu verkaufen“. Das Haus aber, von dem wir uns erhoffen, es böte uns Geborgenheit, empfängt uns mit kaltem Duschwasser, ohne Bettwäsche und ohne Trinkwasser. Ich schlafe im Schlafsack auf der Ritze der Couch. Wir erhalten eine Plastiktüte mit Brot, Milch, Butter und Marmelade in Plastikpäckchen. Bei näherer Betrachtung des Kleingedruckten stammt der holländische Käse aus Polen. Eingeschweißter Putenschinken Ein-Euro-Sonderangebot. Armes Castelo Mendo. Es gibt Orte, die einen zum Weitergehen motivieren.
Sonntag. Tag Sechs präsentiert eine geschlossene Wolkendecke und 26 km Weg. Wieder runter zum Fluss. Wir tappen am Ufer entlang Richtung Almeida, der ehemaligen Festungsstadt. Café Rio Côa, gegenüber dem Ort Castelo Bom, unter der Autobahnbrücke, Frühschoppen: Hühnersuppe, Butterbrote und Salat, die uns Kraft mit auf die Piste geben. Der GR Vale do Côa lädt zu einer waghalsigen Kletterpartie über die glitschigen Felsen des Ufers ein, bevor er vom linken zum rechten Ufer hinüberwechselt. Eine Herausforderung, wie sich herausstellt. Es beginnt zu nieseln. Der Fußgängerbrücke „Manuel José“ fehlen die Geländer. Abmontiert. Die Überquerung ist kein Spaß für nicht schwindelfreie Benutzer. Zur Abwechslung mal wieder Menschen: Angler. Wanderung über verbrannte Erde. Die Uferböschung schwarz. Natur geht schleichend in Zivilisation über. Aus dem Wander- wird ein Feldweg. Der Côa verändert sein Antlitz, eher Kanal als Fluß. Wir erreichen das Hotel außerhalb der Stadtmauern unterm Regenschirm. Quietschende Matratzen, kaputte elektrische Jalousien, die sich nicht öffnen lassen, dünne, hellhörige Wände, ziemlich abgewohnt, aber eine heiße Dusche. Ein langes Bad in einer Sitzbadewanne aus dem letzten Jahrtausend. So endet der Sonntag. Halbzeit. Mehr als 120 Kilometer zu Fuß gegangen.
Wasser plätschert einfach dahin und wird zum Bach. Aus mehreren Bächen entwickelt sich Fluss. Hier und da eine Furt und mit Badestand. Mit der Zeit verändert sich die Farbe, wird zu dunklem Nass, begleitet von Eschen, Kastanien, Ulmen, Eichen, Pappeln. Dämmerige Dunkelheit liegt über dem Fluss. Langsam fließt er dahin, wird tiefer, ruhiger. Morgens dampft er, mäandert wie eine Schlange durch die Landschaft und hinterlässt an seinen Kurven Sedimente. Hier ein Wehr, über das Wasser fließt und dahinter Fischen und Fröschen ein Zuhause ist. Er wird schneller und wieder langsamer. Ein Graureiher steht minutenlang im seichten Wasser und betrachtet sein Leben. Dann fliegt er davon. Büsche mit Hagebutten und Weißdorn säumen den Weg. Die Weiden schneiden eine noch ferne Gebirgslandschaft aus der abendlichen Dämmerung. Aus flachem abfallendem Land, das den Fluss begleitet, wird Gebirge und dann wieder flaches Land. Der Fluss ist Wasserreservoir. Dann kommen Stadt und Lärm. Der Fluss verändert sein Gesicht, ist ernsthaft, lächelt, spielt mit den Lippen, rümpft die Nase. Schafe, Kühe und Ziegen trinken aus ihm. Fluss gibt kühles frisches Nass und nimmt Blätter, Äste und andere versteckte Botschaften mit sich. Hier schießt er durch die enge Landschaft, dort fließt er gemächlich in breitem Bett. Hier und da ein Felsen und anderes rundes Gestein, wie ein Kopf, der neugierig aus dem Wasser guckt und schaut, was am Ufer passiert. Keine Boote. Dafür aber Gras unter Wasser und Mücken, die über seine Flächen flirren. Eine Welt voller Tiere, Moose und Flechten. Mit den aufziehenden Wolken verändert er sein Antlitz noch einmal. Freude kommt auf und seine Aura entspannt sich. Da liegen Knochen eines gerissenen Tieres. Das Skelett am Rande des Ufers. Irgendwo der kahle Knochenkopf mit Gebiss, dort ein gebleichter Hüftknochen. Es ist still geworden. Keine Menschenseele. Wilde Hunde oder schon Wölfe? Naturlandschaft. Hier und da eine uralte Wassermühle. Fruchtbare, feuchte Erde ermuntert zur Landwirtschaft. Unbeschwerte Natur und wieder der Fluss. Mal tief, mal flach. Bleiches, unförmiges Treibholz, wie polierte Gebeine aus einem Grab in den hier und da ausgetrockneten Zuläufen. Kraftvoll hintereinander aufgestellte alte Obelisken, verbunden von anderen, eine Brücke bildend, die über ausgetrocknetes Kieselgestein einer Bachmündung führt. Es beginnt zu nieseln, nur leicht wie im Versuch und hält noch einmal inne. Dann bilden sich Tropfen, die noch vereinzelt auf die Erde fallen. Auf dem Wasser schlagen sie ein wie kleine Bomben. Irgendwann regnet es. Ein Fluss ist immer geduldig mit seinem Himmel.
Montag. Tag Sieben. Aufstehen, Kaffee trinken, Regensachen anziehen, Rucksack schultern. Schokoladenschwarzer Horizont. Nur im Norden fehlt ein winziges Dreieck, wie ein aus einer Torte herausgeschnittenes Stückchen Licht im Tunnel des Tages. Von Almeida durch das nördliche Stadttor marschieren und zum Vorort Arrabalde de Santo António kommen. Die Straße leitet in einen Weg zu einem Bauernhof und dann ist er zurück, der Pfad. Tagesziel „Quinta Nova“ im Landkreis Pinhel. Es beginnt zu regnen, dann zu schütten. Eine Stunde, zwei und drei Stunden. Was sich seit Tagen andeutete ist eingetreten: die Schleusen öffnen sich. Die Schritte im Sand, Kies, Lehm; auf Teer, Geröll und in tiefem Gras werden immer schwerer. Kleine Bäche bilden sich auf den Wegen, die zum Fluss hinabfließen. Auf halber Strecke liegt das Dorf „Cinco Vilas“ mit dem Café. Dona Fátima macht Butterbrote mit Chouriço und Tee.
Nur so ein Gefühl. Wir wurden beobachtet. Da hatte sich doch etwas bewegt. Doch was? Endlich erfasste ich das Objekt in der Landschaft und zoomte heran. Eine einsame Kuh weidete an den verbrannten schwarzen Hängen am anderen Ufer. Es gab weit und breit kein Grün für den Wiederkäuer. Was frisst die da nur? Sie musste sich befreit haben. Ganz allein stand sie da in der Wildnis, bewegte sich vorsichtig am abschüssigen Hang und suchte nach dem Grashalm.
Die Route wechselt vom rechten Ufer zum linken. Man muss vorsichtig über ein Betonwehr balancieren. Wie soll das gehen, wenn der Fluss mal Hochwasser führt? Wir befinden uns auf dem Weg nach Quinta Nova, 24 km. Übernachtung im Encostas do Côa. Gegen Abend kommt Licht in den Tunnel. Das Abendessen wird auf den Tisch gestellt. Kürbissuppe, Fisch aus dem Backofen, Gemüse und Kartoffelgratin, ein 2008er Rosé aus Pinhel. Zum Nachtisch gibt es „Creme Leite“. Exzellent. Kurz vor dem Schlafengehen hängen wir noch die nassen Kleider zum Trocknen auf. Die Wanderstiefel stopfen wir mit Zeitungen aus.
Dienstag. Tag Acht. Tagesziel Cidadelhe. Die Sonne ist zurück. Der 26 km lange Weg und seine Landschaft werden alpin. Die Stiefel trocknen beim Gehen. Auf 700 Höhenmetern angekommen, führt der Pfad im Zick-Zack durch eine Steinwüste hinunter auf 450 Meter, wo der Côa gestaut, ihm Elektrizität abgerungen wird, dann wieder ansteigend auf knapp 650 Meter, vorbei an Quittenplantagen. Erntezeit. Frauen pflücken „Marmelos“. Kein Dorf weit und breit, also auch kein Mittagessen; nur Erdnüsse, Studentenfutter, Orange, Apfel, Brot und Käse. Wasser wird knapp. Höhen und Tiefen des Gemüts wechseln einander ab. Manchmal lassen Kräfte nach, wo Fleisch schwach wird, kommen Momente, in denen auch der Geist schwach zu werden droht. Wir werden das schaffen, sage ich. In Azevo, einem Dorf abseits des Wegs, füllt der Mechaniker unsere Wasserflaschen wieder auf. Wir erreichen Cidadelhe hoch über dem Côa mit dem letzten Licht. Ein Sechsbett-Zimmer in der gerade restaurierten Wanderhütte „Cidadelhe Rupestre“ erwartet uns. Nur noch 39 Einwohner leben in dieser grandiosen Natur- und Kulturlandschaft aus Steinen. Als hätte ein Riese sie an den Wegesrand gelegt. Mauern aus Steinen, Wege aus Steinen, Häuser aus Steinen. UNESCO-Weltkulturerbe. Wir kauen Geschichte, gekochten Bacalhau und lesen Saramago.
Mittwoch. Tag Neun. Kalt aber sonnig. Das Wetter ist wieder mit uns. Auf nach Faia Brava und Castelo Melhor. 24 km. Nick vom Verein ATN aus Figueira de Castelo Rodrigo holt uns ab. Wir steigen über wilde Felsformationen einen engen Pfad hinunter und ins Naturreservat Faia Brava. Überqueren den Fluss an der “Ponte da União“. Im Herbst führt er kaum Wasser. Öffnen das Gatter und schließen es wieder hinter uns: sehen die Wildpferde und Auerochsen, gehen durch Olivenhaine. Erschreckt uns ein wildes Fohlen und verstellt uns den Weg. Langsam umrundet es uns, strebt zurück zur Herde, wiehert. Faia Brava, das sind 850 Hektar pure Natur. Geier und Adler nisten in den Felsspalten über dem Fluss. Wir erreichen die Versorgungsstation des Vereins. Mittagessen. Über Algodres und Almendra geht es weiter nach Castelo Melhor. Abends nehmen wir im Gasthaus „Paleolitico“ das Nachtmahl. Der Raum der Gemeinde ist die einzige Bleibe in der Not. Aus der Bar dringen die wirren Stimmen von Betrunkenen.
Quinta-feira. Donnerstag. Zehn Tage flussabwärts gehen. Die letzten 14 km nach Vila Nova Foz do Côa. Den Berg hinauf, vorbei an Weinbergen und Mandelbäumen. Die kleine weiße Kapelle auf der Kuppe. Dann noch das Dorf Orgal. Der Weg führt direkt zum Douro und danach im Zig-Zack durch die Weinberge hinunter zur Mündung des Côa. Von Weitem sehen wir schon unser Ziel; die Eisenbahnbrücke an der Mündung und die Stadt und ihr Museum hoch oben auf der anderen Seite. 221 km sind geschafft. Der finale Anstieg von etwas mehr als 220 Höhenmetern ist die Krone. Im Museum gibt es exzellente lokale Küche und viel kulturelle Nahrung. Wir grüßen die Grafittikünstler der Steinzeit.
Am Ende begegnen wir Maria (69) und José (74) auf ihrem verbrannten Grundstück. Die Beiden sägen verkohlte Mandelbäume zu Feuerholz. So nehme ich eine Eichel aus meinem Beutel und schenke sie ihnen. Auf dass unsere Träume und Hoffnungen Wurzeln schlagen. Wir pflanzen einen Baum oder betrachten eine 10.000 Jahre alte Gravur. So holen wir uns das verlorene Paradies für einen Augenblick zurück. Die beiden Alten, so erzählen sie, haben nahezu ihr gesamtes Leben in der französischen Emigration verbracht und dort gearbeitet, wie so viele aus dieser Region. Wiedergekommen waren sie jetzt, um ihren Lebensabend zu genießen. Was aber bleibt vom eigenen Leben und vom Land, wenn man so lange fortgeblieben war?