Via Algarviana – Rota Vicentina – Rota do Pescador
Tag 1 – Aljezur – Odeceixe (18 km)
Der Himmel ist an diesem ersten Apriltag so, wie ich ihn vom April kenne: durchwachsen. Zwei Wochen lang wanderte ich bis heute die Via Algarviana auf 250 Kilometern, den Atlantik in der nahen Ferne nur ahnend. Nun halte ich die Nase in den Wind, rieche Salz und Buntes vom Wegesrand. Weitere 350 Kilometer malen die Linien auf dem Papier der Roadmap, die ich auf der Burg in Aljezur pfeifend begrüße: Nur, wo Du zu Fuß warst, bist Du auch wirklich gewesen. Ich glaube, der Mensch ist von Geburt an ein Wanderer. Folgt er nicht einem Wanderweg im herkömmlichen Sinne, so wandert er doch Zeit seines Lebens durch Raum und Erfahrung. Was sucht er auf seinem Weg? Nein, keinen Traum suche ich – auch wenn ich so manch einen badenden Frosch am Wegesrand hätte küssen können. Ich suche eher etwas „Einfaches“, etwas scheinbar „Normales“, das ich jeden Tag übe und das mir so viel leichter fällt zu üben, wenn ich in der Natur sein und durch sie hindurch wandern kann: die Wirklichkeit – das „was ist“. Es klären sich meine Gedanken mit jedem neuen Schritt, so klart auch langsam der Himmel über dem Strand Amoreira auf. Die Windmühle thront oben auf dem Berg in Odeceixe und ich kann sagen: das ist wirklich wunderschön – ich muss nichts tun, außer da zu sein.
Tag 2 – Odeceixe – São Teotónio (17 km)
Heute werde ich vom Ruf eines Kuckucks und einer Reihe gelber Schmetterlinge auf dem Weg von Odeceixe nach Sao Teotónio begleitet. Das sind die einzigen Konstanten, die ich in der Vielfalt dieser Etappe erleben soll. Die Bachläufe erlauben der Vegetation ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Meine Kreativität wird ebenso gefördert, indem ich zahlreiche, großflächige Pfützen zu überqueren versuche. Durchwate ich so den gefühlten Urwald, komme ich nach einem kleinen Anstieg auf eine Plateauebene, auf der sich das Umfeld weitet und ich den Geruch des Eukalyptus wahrnehme. Gedankenverloren tänzele ich menschenseelenallein durch die Wälder und verliere Sinn für Raum und Zeit. Meine Sinne verlieren sich in den Gerüchen, den Farben, dem Geschmack der Luft und den Geräuschen des Windes und der Vögel. Ich bin wie von Sinnen in einer Art Trance, als ein Schaf in meinem Blickwinkel erscheint und mit ihm eine Herde unzähliger weiterer Schafe. Die Romantik hätte mich bis zu diesem Punkt wirklich zu Tränen gerührt, aber die wollüstige Herde ist aufgewühlt. Ich klettere auf einen Korkeichenast, um dem Zug freien Lauf zu gewähren. Nachdem die Ruhe zurückgekehrt ist, steht die Sonne perfekt für ein kleines Nickerchen, das ich mir vor dem Eintritt ins verschlafene São Teotónio gönne. Aufstehen, Gehen, Essen, Schlafen. Wesentliches. Es tut gut – einfach mal einfach zu sein.
Tag 3 – São Teotónio – Odemira (19 km)
Wandert man, so lässt man das Ver-Gangene mit jedem Schritt hinter sich. Und manches, so merkt man, trägt man stets mit sich. Als die Glocken an diesem Sonntag läuten und ich meinen Kaffee auf dem Vorplatz der Kirche schlürfe, bin ich mit einem Mal wieder da, wo ich aufwuchs: in einem Dorf. Es lohnt sich, wenn man an einem unbekannten Ort ist, an einem Platz zu verweilen und die Umgebung in aller Ruhe zu beobachten. Zwar spreche ich nicht die Sprache der Menschen, die hier leben, aber so ein Sonntag auf dem Dorfplatz – das hat einen gewissen Deja-Vu Charakter für mich. So darf ich an diesem Tag den Verlauf meiner Kindheitstage noch einmal vor meinem inneren Auge durchlaufen.
Die Dorfstraße verlassend, stehe ich mit einem Mal auf dem Feld, das sich von nun an bis über die nächsten 20 Kilometer farbenfroh vor mir ausbreitet. Sonntag bleibt es den ganzen Tag. Habe ich in meiner Kleiderwahl wie jeden Wandertag nur die eine Hose und das eine T-Shirt (ich halte meine Ausrüstung gern sehr leicht) und sind auch meine Wanderschuhe nicht gerade sauber, so fühle ich mich dennoch recht bürgerlich, als ich die fußschmeichelnden Wege ganz mühelos entlang spaziere. Mal ein Stock, mal ein Stein, aber keine große Steigung und folglich auch kein Abstieg. Alles „ganz normal“ heute – das erinnert mich irgendwie auch an meine Heimat. Der Fluss Mira ist, wenn nicht an meiner rechten Seite, so an meiner Linken. Auch das ist wie damals: Geplätscher und Vogelgezwitscher waren der sonntägliche Chor. In der Kreisstadt Odemira suche ich vergeblich die Einwohner… der kräftigen Sonne nach schliesse ich, dass sie wohl irgendwo im Schatten
Unterschlupf suchen. Ich tue das in der Kirche. Die Bänke sind genauso unbequem wie ich sie von vor vielen Jahren in Erinnerung habe. Ich bleibe gleich eine ganze Stunde kerzengerade und gerade so entspannt dort sitzend, wie ich es aus der Kirche kenne. Ich bin glücklich: so ein Sonntag ist schon was Feines!
Tag 4 – Odemira – São LuÃs (25 km)
Es gibt so Tage. Dieser ist so einer: es läuft. Das heißt: ich laufe, so als würde ich gar nicht laufen, als würde mich etwas laufen. Klingt kryptisch? Ist magisch!
Odemira verlasse ich zur frühen Morgenstunde. Das Wetter im Süden hat mich gelehrt: es gibt einen Punkt der Wärme, da legt man seine Füße lieber hoch, als dass diese das eigene Körpergewicht tragen. Schnell bin ich in eine Mystik eingehüllt, die sich bis nach São Luis weiterzieht. Die virtuose Bandbreite an Gewächsen und Tieren schaukelt mich heute in diesen märchenhaften Zustand des „Gelaufen Werdens“. Ich kann mich ganz dem Spektakel an Bildern und Orten hingeben. Die Bach-Musik lässt mich vollkommen abtauchen in die Weite des Seins, als auf einmal … etwas passiert. Auch das mag so manch ein Wanderer kennen, aber sich vielleicht nicht so leichtfüßig dazu bekennen. Dieses Etwas wird meist als störend empfunden. Man nennt es auch Schmerz.
Ich kenne dieses Phänomen Zeit meines Lebens und darf es bei jeder (Weit-) Wanderung wieder erforschen. Blasen. Ich habe gelernt kein Schmerz zu sein, sondern einen zu haben. Die Unterscheidung macht mir den Schmerz leichter. Ich gewähre mir außerdem die Freiheit der Entscheidung: möchte ich leiden oder nicht? Ich sage meistens: nein und erlaube mir so den Schmerz zu fühlen (das geht auch meist nicht anders), aber ich leide nicht. Ich gehe mit ihm und meist gehe ich irgendwann durch ihn hindurch in etwas Neues. Und so laufe ich schmerzlich aber herzlich langsam durch die Gärten von São Luis. Ich bin dabei ganz eingebettet in die Natur: der Schmerz gehört auch dazu.
Tag 5 – São LuÃs – Cercal do Alentejo (21 km)
Die Tage werden länger. Um sieben Uhr ist man hierzulande nicht wie in Berlin schon beim dritten Kaffee. Ich lasse São Luis also sehr leise hinter mir bzw. São Luis lässt mich leise gehen. Eine Wanderin studiert die Karte und die zeigt mir heute den höchsten Berg der Region. Ich hadere noch, ob ich die 329 Höhenmeter mit in die Liste meiner Bergbesteigungen aufnehmen soll, als mein Wanderherz in mir pocht und schreit: ein Berg ist ein Berg! Ja, so ist das mit den Bergen. Und was macht man gewöhnlich, wenn man einen Berg rauf geht? Genau! Man geht ihn danach wieder runter. Ja, so einfach ist das mit den Bergen! Und zwischendurch darf man den Gipfel, etwas anderes Höheres oder sich selbst feiern – oder alles zusammen. Mir scheint die Morgensonne über die Serra-Höhen blickend bis zum Meer ins Gesicht und ich feiere in dem Moment die einfache Wirklichkeit. Es gibt nichts zu erreichen, außer den nächsten Schritt. „Das Geheimnis des Vorwärtskommens besteht darin den ersten Schritt zu tun“(Mark Twain). Und einen Schritt nach dem anderen zu machen, das lernen wir früh im Leben. Seit Menschen sich auf ihre Füße gestellt haben, ist es die einfachste und natürlichste Art der Bewegung: das Gehen. Beim Gehen erlebe ich Wirklichkeit, Einfachheit und Ursprünglichkeit – und das mit jedem Schritt. Ich stelle mir vor, dass wenn ich diese Erfahrung so bewusst mache, dann prägen es sich meine Zellen ein, sodass ich auch um sieben Uhr im Slalom durch den Berliner Berufsverkehr mit einem wirklichen, einfachen und ursprünglichen Gefühl gehen kann.
Tag 6 – Cercal de Alentejo – Vale Seco (23 km)
Schmerzten meine Füße, so bekommt meine Seele Flügel. Der Morgentau entlockt den Weiden um Cercal herum alle Harmonie aus den Getreide- und Grashalmen. Durch die Natur zu gehen, sie zu bestaunen, läßt mich teilhaben an ihr. Ich fühle mich verbunden, fühle selbst Teil zu sein – natürlich zu sein. Eine Asphaltstraße, die die Weidenfläche teilt, erscheint mir wie ein Panzer im Kinderzimmer. Es tut (fast) weh. Ist es nicht die Natur aller Dinge, nach Wachstum zu streben? Wir Menschen streben auch nach Wachstum. Die Frage stellt sich nur, wie umfassend wir diese Frage auch auf den Teil ausweiten, der uns selbst das Leben schenkt: die Natur. Wie mein Blick so über die Weide geht und am Asphalt hängen bleibt, frage ich mich wie es wäre, wenn die Natur zu uns sprechen würde. Eine Wolke zieht vorbei. Sie zieht vorbei, wie meine Gedanken. Welchen Gedanken ich folge, das ist Freiheit. Und welche Gedanken ich umsetze, auch das ist meine Freiheit. Ich schaue den Vögeln zu, lausche dem Wind. So gehe ich diesen Tag durch die Natur. Ich lasse Gedanken in mir wachsen, was in meinem Lebensalltag nicht der Natur der Dinge entspricht… Was will ich in diesem Leben noch zum Wachsen bringen?
Tag 7 – Vale Seco – Santiago do Cacém (18 km)
Heute schließe ich den letzten Teil des historischen Pfades in Santiago de Cacém. Manche Wanderer beginnen – andere enden dort ihre Wanderung – und wieder andere gehen ganz anders. Das ist das Schöne an diesem Wanderpfad: man kann seine Route kreativ nach eigener Kondition und Laune gestalten. Das Hinterland erschöpft die Stille einer scheinbar angehaltenen Zeit und die Küste folgt dem Gesetz von Ebbe und Flut in ihrer Bewegung. Diese Etappe heute gehe ich mal anders: Keine Nahrung vor, keine Nahrung während und keine Nahrung nach dem Laufen. Essen – ein Genuss, manchmal ein Muss und manchmal pure Gewohnheit. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht mit der Gewohnheit zu brechen, um herauszufinden ob etwas, das ich gewöhnlich mache, in genauer Betrachtung auch wirklich wesentlich ist. Dafür mache ich dann mal etwas anders. Mal wegfahren. Mal Hafer- statt Kuhmilch trinken. Mal versuchen ohne Plastikmüll einzukaufen. Stelle ich nach dem Versuch fest, meine Gewohnheit macht Sinn (für mich und mehr als nur für mich) dann kehre ich gerne zurück zur Gewohnheit. Stelle ich fest, dass etwas Anderes mehr Sinn ergibt – so stelle ich mich der Herausforderung, meine Gewohnheit mehr nach dem Sinn auszurichten. Zwar baue ich im Leben keine Asphaltstraßen, aber als VerbraucherIn nehme ich auch etwas von der Natur. So macht es durchaus Sinn für mich, der Gewohnheit meines Nahrungskaufes mal auf den Sinn zu fühlen. Ich laufe wie eine Schildkröte durch die Zeit und wäre die Sonne nicht untergegangen, so hätte ich die Zeit vergessen. Beim Laufen hat man so allerlei viel Zeit, um über so allerlei viel nachzudenken. Es wundert mich nicht, dass der Bus nach Porto Covo nur ein Mal am Tag fährt. Ich bin fast erleichtert. Die U-Bahn bei mir zu Hause kommt alle zwei Minuten.
Tag 8 – Porto Covo – Vila Nova de Milfontes (20 km)
Ich habe Muskelkater. Nicht in den Beinen. Ich habe Muskelkater im Gesicht. Sechs Stunden lang habe ich meine Mundwinkel zu meinen Ohren gezogen. Die einzigen Male, in denen mein Mund etwas anderes als ein Lächeln zu formen weiß, ist der hörbare Ausdruck von „Oh, mein Gott!“. Um sieben Uhr liegen die Dünen Porto Covos gebadet in den rosarotleuchtenden Farben des Atlantiks. Wellenrauschen, Möwen und weit und breit nichts außer diesem Strahlen. Ich halte mich noch zurück. Eine Minute nach der anderen. Ich spüre etwas Ãœberwältigendes. Würde ich mich trauen? Ein Liebesbekenntnis ist – wahrscheinlich je nach Erfahrung – eine herausfordernde Maßnahme. Man muss das Risiko eingehen, wenn man ehrlich sein möchte. Ach, egal, sage ich mir: Hauptsache Leben! Also nahm ich Anlauf und … schrie: „Wie schön! Ich liebe das Leben!“. Es hat sich gelohnt. Das Meer, groß und stark hält es aus, dass ich meine Liebe bekunde – es hält es sogar aus, dass ich schreie. Das ist nicht selbstverständlich. An diesem Tag kommen mir mehr Wanderer entgegen als in der ganzen letzten Woche zusammen. Es ist genug Platz für alle da. Ich bin wie ein Kind, das sich mit jedem neuen Blick überraschen und sich frei laufen läßt – auch im Ausdruck dieser Freude! Ehrlich sein macht Spaß! Ehrlich sein mit sich und mit den anderen. Und… ehrlich? Wie häufig sagen wir ehrlich, was wir denken? Und wie häufig sagen wir anderen ehrlich, was wir an ihnen mögen?
Tag 9 – Vila Nova de Milfontes – Almograve (15 km)
Der Wochentag ist beim Wandern weniger bedeutsam als sonst im All-Tag. Aber heute ist Wochenende und ich bekomme Besuch von einem guten Freund und seinem Hund. Ein bekanntes Gesicht zu sehen und mich austauschen zu können mit jemanden, den ich kenne und der mich kennt – das weiß ich zu schätzen, auch wenn mir in der Natur „nichts fehlt“. Mit einem Gläschen Wein hat er mich am Abend zuvor in Vila Nova de Milfontes empfangen und am Morgen schlendern wir durch die Markthalle, statten uns mit frischen Obst und Gemüse aus. Wo ich in Berlin die Etiketten studieren muss, ob die Kartoffel nicht aus China kommt, so steht hier hinter einem Marktstand auch die regionale Herkunft nicht in Frage. Das weiß ich zu schätzen. Gemeinsam schauen wir dem Glitzern des Meeres entgegen. Zwei Wanderfreunde unterwegs. Und auch das weiß ich zu schätzen. Mit jemanden gemeinsam zu wandern, ist für mich nämlich nicht selbstverständlich. Wenn man mit jemanden über weite Strecken nebeneinander gehen kann, man sich schweigend, tratschend oder philosophierend verstehen und streiten kann… und wenn man dann noch merkt, dass jedeR seinen Schritt gehen kann, wie er will und jedeR sein kann, wie er will … und wenn man sich dann noch gegenseitig in diesem Sein und Tun zu schätzen weiß: dann ist das für mich wohl einer der besonderen Schätze dieser Welt: ein guter Freund.
Tag 10 – Almograve – Zambujeira do Mar (18 km)
Zur Feier des Tages beginnt die Tour heute an einer Kläranlage. Der Tag kann also nur besser werden. Die Verwunschenheit der ersten Kurven um den Strand herum gibt den Blick frei auf eine marsähnliche Sandlandschaft. Das Stapfen durch den Sand wird begleitet und erleichtert durch einen stürmischen Wind. Mit Ehrfurcht blicke ich so manch eine Klippe hinab in die Tiefe und staune über die Kraft der Wellen. Schmuckhaft steht der Leuchtturm des Cabo Sardão über die Hälfte der Etappe in sichtbarer Ferne. Als ich diesen hinter mir lasse, setze ich Berliner Musik auf die Ohren und von da an wird mein Schritt sportlich. Der leicht gehbare Pfad nach Zambujeira hinein erinnert mich an den langen Trampelpfad meiner Berliner Laufstrecke. Das tut mal wieder gut. Mit sechs Kilo Gepäck auf meinem Rücken ist der schnelle Schritt ein Heimspiel. In Zambujeira do Mar angekommen, gehe ich meiner (einzigen) täglichen „Verpflichtung“ nach: Waschen. Erst tauche ich mich selbst in den Atlantik und später dann mein einziges Wechselshirt. Nachdem ich mich als sauber erachte, erkunde ich die Straßen und ende den Tag wie der kleine Prinz: mit einem Sonnenuntergang.
Tag 11 Zambujeira do Mar – Odeceixe (22 km)
Auf das Einatmen folgt das Ausatmen. Auf den schnellen Schritt folgt heute die Entschleunigung. Einatmen – ein Schritt mit dem rechten Fuß. Ausatmen – abrollen. Einatmen – ein Schritt mit dem linken Fuß. Ausatmen … Mal geht es ein bisschen nach rechts, mal nach links, stets voran. Den Blick zurückwerfend, ändere ich die Perspektive. Der Blick nach vorne lässt nur ahnen. Sicher ist nur das, was ich jetzt gerade sehe. Und auch das ändert sich mit jedem Schritt. Wenn man das Tempo mit einem Vehikel gewohnt ist, oder das Tempo der Stadt, so kann man kaum glauben, dass sich die Umwelt mit jedem kleinen Schritt ändert. Passt man sich an, das heißt, geht dem menschlich natürlichen Tempo entsprechend zu Fuß, dann wird man leicht Zeuge dieser ständigen Veränderung. Dass, was man sieht, ist in jedem Moment neu. Auch dann, wenn man nichts gemacht hat – außer einen neuen Atemzug genommen hat. Ein Phänomen. Für einen Buddhisten normale Realität. Für mich manchmal immer noch Faszination und Ãœberraschung zugleich: ein Wunder jagt das Nächste. Irgendwie bekannt und doch immer wieder neu. Ein Schritt nach dem Nächsten. Ich fühlte mich vertraut in der Natur. Angekommen, obwohl ich in Bewegung bin.
Tag 12 – Aljezur – Arrifana (22 km)
Die Entschleunigung wirkt heute noch mehr. Ich bewegte mich in Zeitlupe. Und unter dieser Lupe schaue ich mir heute ganz genau das an, was mir begegnet. Der erste Teil der Route erlaubt mir aufgrund des eintönigen Asphalts meine geistige Landschaft zu erkunden. Als ich dann die Reliefs der Küstenkette bei Ebbe erblicke, bekommt meine Seele Flügel und fliegt durch die äußere Landschaft. Ein Paraglider taucht neben mir auf, ich höre gerade „Le vent nous portera“ von Noir Desir … Synchronizität. Ich weiß: ich bin richtig. Da wo ich bin, bin ich richtig und so wie ich bin, bin ich richtig. Wenn das Äußere und das Innere so zusammenkommen – dann bleibt doch nur diese plumpe Feststellung: es ist alles gut und richtig, so wie es ist. Ich durchlaufe den Tag, indem ich Sinn in allem finde.
Tag 13 – Arrifana – Carrapateira (25 km)
Entdeckt man eine Leidenschaft für sich, dann fühlt sich nichts natürlicher an, als genau das zu tuen wofür „man brennt“. Brennt man für eine Sache, dann erfordert es Leid (im Sinne der Anstrengung sich dieser Sache zeitlich und konzentriert zu widmen) und dafür schafft man etwas. Ich glaube, der Mensch möchte Sinn erfahren im Leben. Ich glaube, das tut er, wenn er das er-schafft worin er Sinn sieht bzw. wofür sein Herz brennt. Für mich ist eine Leidenschaft die Bewegung. Ob nun den liebenlangen Tag durch die Natur oder auf ungefähr einem Quadratmeter Matte Yoga zu praktizieren. Ich glaube, dass es sich lohnt, der Bewegung nachzugehen, die einen ganz tief im Inneren bewegt. Leben bedeutet für mich Bewegung. Auch wenn wir scheinbar still stehen, so ist der Körper dabei in Bewegung. Es gehört zu unserer Natur, uns zu bewegen. Ich glaube auch, dass es ebenso unserer Natur entspricht, nicht nur uns selbst, sondern auch etwas zu bewegen im Leben. Mich bewusst zu bewegen über Kilometer oder auf einem Quadratmeter hinweg hilft mir, mich mit dem zu verbinden, was für mich wirklich und wirklich wichtig ist. Die Bewegung erlaubt meinem Körper, gesund zu sein und meinen stets wandernden Geist zu fokussieren. Bewege ich mich selber, so erfahre ich Ruhe, Zentrierung, Ursprünglichkeit, Echtheit, Natürlichkeit und Klarheit. Was man für sich selbst gewonnen hat, das kann man in die Welt hinausgeben. So laufe ich heute bewegt durch die Zistrosenhaine und lasse die Gedanken frei laufen wie ich die Leidenschaft der Bewegung, der ich mich mit Muße widme, weiter in die Welt geben kann.
Tag 14 – Carrapateira – Vila do Bispo (18 km)
Glänzend leuchtendes Gelb ist überall auf den Hügeln zu sehen. Die Strahlen der Morgensonne und das Blau des Himmels… es ist… man nennt es, glaube ich… vollkommen. Das Bild ist vollständig. So als würde sich die ganze Natur darauf konzentrieren, vollkommen zu sein. Ich bin berührt von dieser Vollkommenheit und passe meinen Schritt bedächtig an, als würde ich durch einen heiligen Tempel schreiten. Wie oft denken wir Menschen, dass irgendetwas nicht richtig sei. Wir selbst, andere oder irgendetwas sei nicht genug. Die Natur kennt so etwas nicht. In ihr hat alles seinen Platz. Seinen richtigen Platz. Man würde gar nicht auf den Gedanken kommen, den Busch, die Blume oder den Berg besser zu finden, wenn er mehr rechts oder links stehen würde. In jeder Jahreszeit sieht es anders aus. Alles entfaltet sich zu seinem Zeitpunkt, alles zu seiner Zeit und alles ohne Zweifel vollkommen richtig…
Nun bin ich bereits seit vier Wochen in Portugal. Ich nehme mir für gewöhnlich gerne etwas mehr Zeit um etwas Neues kennenzulernen. Jeden Tag sehe ich hier etwas, das ich vorher noch nicht gesehen habe. Man nennt das auch Frühling, glaube ich. Ich laufe Zickzack. Es ist Ostern. Ich finde keine Eier, dafür aber viele neue bunte Blumen. Es erinnert mich an etwas…: Sich über etwas wundern können, etwas bewundern können, Wunder sehen zu können. Ja, das macht Spaß. So bewundere ich die Natur in ihrer Kraft und Freude sich auszudrücken – ohne Angst. Wie sähe die Welt aus, wenn wir Menschen uns gut genug fühlen? Können wir das vielleicht von der Natur lernen?
Tag 15 – Vila do Bispo – Cabo de São Vicente (17 km)
Ich bin ein bisschen aufgeregt. Das hat damit zu tun, dass ich heute ein Ziel erreichen werde. Liefe ich salopp nach dem Motto der Weg ist das Ziel, würde ich heute trotzdem an einen Punkt kommen, wo der Weg laut Karte aufhört. Dieser Punkt ist das Cabo de São Vicente, der südwestlichste Punkt Europas. Über diesen Punkt hinaus könnte ich also nicht weiter laufen? War das so? Erreicht man ein Ziel, ist man dann angekommen und man/es geht nicht mehr weiter? Ein Ziel zu erreichen klingt toll, wie als hätte man etwas geschafft und könne sich dann für immer und ewig ausruhen. Mir kam ein Spruch in den Sinn: Vor der Erleuchtung: Holz hacken und Wasser tragen. Nach der Erleuchtung: Holz hacken und Wasser tragen. Zwischen dem Vor und dem Nach gibt es noch das Jetzt. Da hackt man wahrscheinlich auch Holz und trägt Wasser. Hackte ich also Holz und trug Wasser vor meiner Wanderung, tat ich es während dieser und würde das Gleiche danach tun?
Etwas zu erreichen, bedeutet „seinen Weg zu gehen“, „etwas nahe zu kommen“, „es weit bringen“ oder auch „weiterzukommen“. Erreichen ist also sinngemäß kein Stadium des Stillstandes. Wir erreichen ein Ziel und danach geht es weiter. Ich habe zwei Wochen nichts weiter gesehen, als mein Blick reichte – das hatte ich stets erreicht. Ich freue mich über die klare Sicht am Kap. Danach kommt also nichts mehr? Oh doch! Wir können vieles erreichen im Leben – vor allen Dingen, das, was wir selber sehen können und wozu wir uns auf den Weg machen. Ich war angekommen – ich war auf dem Weg.
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