Mittwoch, der 29. Abril 2020
von Leila Dregger
Madonna nannte angesichts des Todes eines Schauspieler-Kollegen das Virus den “großen Gleichmacher”. Das Gegenteil stimmt: Die Corona-Krise verschärft Ungleichheiten. Internationale Beobachter schätzen, dass im globalen Süden mehr Menschen an Hunger und staatlicher Gewalt zur Durchsetzung der Maßnahmen sterben als an Covid-19. Doch aus einigen Orten erreichen uns hoffnungsvolle Nachrichten: Menschen in Slums und Armutsvierteln helfen sich gegenseitig. Es ist die große Stunde des Nachhaltigkeits- und Gemeinschafts-Wissens.
Lichtblicke gibt es immer dort, wo die Menschen in Armutsvierteln schon vor der Pandemie ihr Schicksal in die eigene Hand genommen haben. Ein Beispiel aus Kenia: Vor neun Jahren besuchte ich Mitume, ein Slum in Kitale. Dort hatte ein junger Mann namens Philip Munyasia zwischen Hütten und Müll einen winzigen Garten angelegt und zeigte Kindern, Jugendlichen und Frauen Praktiken der Permakultur. Sie sammelten Saatgut, ernteten in Fülle, legten einen Brunnen an: Es entstand mitten in der Verzweiflung ein Ort der Hoffnung. Inzwischen ist das Projekt zu einer Nachhaltigkeitsschule angewachsen, mit Heim für Straßenkinder, mit zwei großen Gärten, ein Kongresszentrum ist in Bau. Ich wollte erfahren, wie es seiner Initiative derzeit geht. Munyasia: “Hier hat niemand Ersparnisse. Zu Hause zu bleiben, wäre der Tod.” Wie in vielen Teilen Afrikas leben hier die Menschen eine größere Angst als das Virus: den Hunger.
Und so verstärkte er vor allem die Aktivitäten für Lebensmittel-Autonomie. Hunderte machen mit, denn die normalen Jobs sind weggefallen. Gemeinsam mit Jugendlichen, Straßenkindern, Fraueninitiativen entstehen immer mehr Gemeinschaftsgärten, Regenwasserteiche, Aufforstungen. Sie bauen Solarkocher und Biogasanlagen und nähen Gesichtsmasken aus alten T-Shirts. Da Philip schon vor Jahren Brunnen bohren ließ, kann er jetzt allen Bewohnern des Slums freien Zugang zu Trinkwasser gewähren – ohne das könnte kaum jemand die Hygienevorschriften einhalten!
“Damit wir durch unsere neuen Regenwasserteiche keine Mückenplage und damit Malaria verstärken, setzen wir Fische ein. Diese ernähren sich von den Mücken, und wir werden am Ende des Jahres Fisch essen,” freut er sich.
Über Internet und Telefon ist Philip mit anderen Initiativen vernetzt und berät Menschen in Uganda, Namibia, Tansania, diese Zeit ähnlich zu nutzen. “Jetzt ist nicht die Zeit zu verzweifeln, sondern Zeit, den Spaten in die Hand zu nehmen.”
Ein anderes Beispiel für Selbsthilfe in Armutsgebieten kommt aus Brasilien. Viele Favelas sind abgeriegelt. Die Jobs in den Reichenvierteln fallen weg. Wovon leben in dieser Zeit? In der Favela Jardim Nakamura, São Paulo, leisten Claudio Miranda und seine Familie seit 20 Jahren Selbsthilfe für Nachhaltigkeit, dazu gehören eine vegetarische Küche und eine Musikschule für Straßenkinder. Angesichts des drohenden Hungers starteten sie nun ein Pilotmodell: die Favela-Karte für die Grundversorgung.
Die Verteilung von Grundlebensmitteln geschieht durch eine Art Gutschein-Karte in lokalen Geschäften. 500 besonders bedürftige Familien erhalten zunächst ihre Grundbedürfnisse an Nahrung und Hygieneartikeln, ohne sich in Menschenmengen begeben müssen. Miranda und sein Team bestücken die Läden, organisieren einen hygiene-erfahrenen Lieferservice und finanzieren dies durch eine weltweite Crowdfunding-Aktion. Ganz nebenbei stärken sie damit den lokalen Handel.
Ich bin sicher, es gibt Hunderte, wenn nicht Tausende solcher Hoffnungsfunken: Menschen, die die Krise gemeinsam meistern, die Nachhaltigkeits-Wissen zusammenfügen. Das ist mehr als eine Überlebensstrategie. Zusammengenommen bilden sie das Fundament einer möglichen neuen Zeit, einer Nach-Corona-Zeit. Vielleicht werden wir eines Tages gar nicht mehr zur sogenannten Normalität zurückkehren wollen, sondern uns lieber auf das verlassen, was Natur und Menschen miteinander schaffen.