Dienstag, der 7. April 2020
(Be)sinnliche Zeit
Ein Kommentar von Dina Adão
Die Zeit vergeht. Das ist der Lauf der Dinge. Der wilde Spargel am Wegesrand ist alt und dornig geworden, Mandelblüten haben grünen und milchigen Früchten Platz gemacht, aus dem Winterschlaf erwachte Lupinen und Immergrün leuchten wieder lila und gelb entlang der kleinen Wege, Brennnesseln erheben sich neben Disteln, Ringelblumen, Erdrauch …
Eine Weile scheint die Zeit an mir vorüber zuziehen. Erinnerungen machen sich breit und lassen wenig Platz für Träume. Körper und Geist stellen sich zusammen auf die Notwendigkeit ein, Aufgaben aus der Ferne ebenso gut auszuführen, wie dies vorher bei Anwesenheit möglich war. All meine Energie wird dadurch in Anspruch genommen – es bleibt kaum Raum, neue Kräfte zu tanken.
Ich verlasse das Haus. Die Tür schlägt zu. Schlüssel klimpern, während ich die Treppe hinunter gehe. Auch auf meinem Fahrrad sitzend bleibe ich eine Gefangene. Ich kann versuchen, mich von den Problemen zu verabschieden, mir etwas vormachen oder mir vorstellen, dass alles wieder so wird wie früher: Meiner Tochter einen guten Morgen wünschen, Schüler und Kollegen zum Schuleintritt willkommen heißen und meine Kollegin beim Betreten der Bibliothek mit Küsschen begrüßen; an freien Tagen meine Eltern umarmen und bei einem gemeinsamen Essen mit ihnen plaudern.
Während mir diese schönen Gedanken durch den Kopf gehen, umhüllt mich der Wind mit einem vertrauten, ja sogar beschützenden Aroma: Der Duft von Orangenblüten- so intensiv. Es ist Frühling. Die Schwalben sind in ihre Nester unter den Dachüberständen zurückgekehrt, Spatzen zwitschern um die Wette, hüpfende Amseln picken Insekten aus den Bäumen, und ich vergesse für einen Moment die Isolation, die Entfernung von denen, die ich am meisten liebe, die Krankheit, die Angst.
In meiner Vorstellung kann dies so sein. Aber wollte nicht jeder von uns, wenigstens einmal in seinem Leben, schon die Zeit anhalten können? Sie lässt sich aber nicht stoppen, sondern fließt einfach unbeirrt weiter.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass mir die Zeit, die für mich immer so wichtig und kostbar war, nun auf dem Silbertablett serviert wird, aber ich habe keine Möglichkeit, sie auch wirklich zu genießen. Kennst Du das nicht auch: Dir erscheint ein schöner Traum, aber Dir fehlt die Gelegenheit, ihn zu verwirklichen? Ich verliere mich in vielen Worten, aber der Begriff Freiheit – oder besser gesagt, deren Entzug – drückt am ehesten aus, was ich wirklich fühle.
Ich halte an kleinen Dingen fest und an den Emotionen, die sie in mir auslösen. Ich habe die kleinen Dinge und Gesten des Lebens immer zu schätzen gewusst. Ich stehe ganz in Gedanken verloren vor einem Gemälde. Vor mir liegt jetzt ein langer Weg, ich muss Abstand gewinnen, um sehen zu können, wohin er führt. Aber wie Clarice Lispector sagte: „Selbst das Abbauen eigener Schwächen kann gefährlich sein. Man weiß nie, von welcher Schwäche unser gesamtes Gebäude gestützt wird.“
Daher erfordert der Weg Reflexion und einen langen Lernprozess. Im Bewusstsein, dass weniger mehr sein muss. Weniger wird viel mehr sein!