Samstag, der 23. Mai 2020
von Uwe Heitkamp
In Zeiten, in denen eine Stadt voller Menschen langsam wieder am öffentlichen Leben teilnimmt, besinnen wir uns hier im Hinterland auf die lebenswichtigen Produkte, mit denen wir bisher jede Krise überlebt haben: gutes Brot, eigenen Honig, lokales Olivenöl, Johannisbrotmehl, Alcagoita auch Erdnußbutter genannt, landwirtschaftliche Produkte, frische Lebensmittel wie Ziegenkäse und Flor do Sal, die alle aus lokaler Produktion stammen und nicht wegzudenken sind bei einen guten Frühstück, Mittag- oder Abendessen. Vor dem Mittagessen zupfe ich die äußeren Salatblätter vom Rucola und der Endivien im Garten ab und wasche sie in der Küche. Dann hole ich die ersten kleinen Kirschtomaten aus dem Beeten hinter der Küche, ein paar Kräuter, die in Sichtweite wachsen und beginne danach mit dem Dressing. Eigenes Olivenöl, Walnüsse, Äpfel, Neperasch, Orangen und Zitronen, eigene Kartoffeln, wilde Kräuter. Wir machen unseren Joghurt und Kefir selbst. Unsere Eier kommen von Hühnern, denen wir Gute Nacht wünschen.
Lange genug habe ich in der Stadt gelebt auch in der Hoffnung, dort etwas zu entdecken, was mir Bekannte immer mit dem Begriff Kultur versucht haben schmackhaft zu machen. Das würde das Stadt- vom Landleben unterscheiden: das große Angebot an Kultur. Filmfestivals, große Fußballspiele; gutes, weltbewegendes Theater, Live-Musik, Kunstausstellungen, Kneipen und ein großes Angebot an vielen Veranstaltungen. Seit mehreren Monaten überlebe ich ohne sie. Jetzt, in diesem Moment, in dem vielleicht bald alles so weitergeht, wie es aufgehört hat, mit Lärm und Feinstaub von Millionen Autos und dem Gestank aus tausenden Müllcontainern, die wir eufemistisch ECO-Pontos nennen, wird mir immer klarer, wie lebensfeindlich unsere Städte heute sind und wie weit wir uns vom gesunden Leben bereits entfernt haben. Und mir wird klar, wie lebensfreundlich das Dorf und das Leben auf dem Land sind. Die Kurve der Infektionsrate einer Pandemie läßt sich auf dem Land sehr flach halten.
Gesundes Leben beginnt im Geist, in der Seele, im Herzen eines jeden Menschen. Ob wir in der Stadt oder auf dem Land leben, kann jeder für sich selbst entscheiden. Ich erinnere mich mit Freude an ein Bild, das sich in meiner Erinnerung festgeschrieben hat: mein damals junger Sohn stieg auf sein Fahrrad und fuhr mit seinem Freund Ricardo zu einem nahegelegenen See um ihre neuen selbstgebastelten Angeln auszuprobieren. Schwimmzeug hatten sie dabei und sie spielten mit ihren zehn Jahren den ganzen lieben und langen Ferientag in der Natur. An einem Tag machten sie Bekantschaft mit Schlangen und Skorpionen, am anderen Tag lernten sie Wildschweinspuren lesen und über ihnen kreisende Adler kennen und wie man sich achtsam und vorsichtig in der Natur bewegt und sie schützt. Nachtigallen, der Kuckuck, Spechte und Spatzen, Schwalben und Amseln, Tauben und Drosseln halten heute wie jeden Abend und bis in die Nacht hinein in unserem vielfältigen Wald Konzerte, die es mit jedem Philharmonie Orchester aufnehmen können. Und seit 365 Algarve auch zu uns ins Dorf kommt, fehlt uns auch die Kultur nicht mehr.
Um die Neuerscheinungen des Büchermarktes zu studieren, um ein gutes Buch zu lesen, ist die Ruhe, die jene stillen und geheimen Plätze des Waldes mir anbieten, eine Basis für die seelische Balance und die Arbeit als Journalist und Bauer. Früh morgens gebe ich den Bohnen, Kürbissen und Melonen Wasser, abends bin ich bei den Kartoffeln, Zwiebeln und Tomaten, nebenbei schaue ich genau hin, wie sich das Saatgut entwickelt, denn das Wichtigste lernt der Bauer mit seinem Saatgut. Er lernt, dass er immer mindestens zehn Prozent seiner Ernte zurückbehält und konserviert, damit er auch im nächsten Jahr wieder etwas zu essen hat. Das lernt man nicht in der Stadt und auch nicht dort, wo man sich vom natürlichen Leben weitestgehend verabschiedet hat. Dort lernt man eher, wie man von staatlichen Sozialhilfen und auf Kredit lebt. In diesem Sinne greife ich heute zu einem etwas älteren Buch, das David Graeber einmal geschrieben hat und das immer aktuell bleibt. Es erzählt die Geschichte des homo sapiens in seinen ersten 5.000 Jahren, seit es das Geld gibt und diese Schulden; auch vom Leben im alten Babylon: von der Landflucht und der Schuldenfalle. Spannend wie ein Thriller erzählt es vom Menschen, der in sinnloser Beschäftigung en masse sich immer weiter von sich selbst entfernt, statt zu Sinn füllender Tätigkeit zu finden. Mit diesem Buch komme ich wieder in der Gegenwart an.