Samstag, der 11. April 2020
Krise bedeutet “Moment der Entscheidung”
von Francisco Colaço Pedro
“Wir haben die erste Schlacht gewonnen”, ruft der Präsident dem Land zu. “Der Gegner ist heimtückisch und unberechenbar.” Während draussen der Frühling beginnt, ist das Volk zu Hause eingeschlossen. Dann erhält es die wenig überraschende Nachricht des verlängerten Ausnahmezustandes.
Das Coronavirus ist zur Zielscheibe geworden. Die Medien aktualisieren im Minutentakt und berichten in Form einer Seifenoper der Angst und bezeichnen es als Dienstleistung.
Im Übrigen werden das tägliche Artensterben, der Klimawandel und der Weg zum ökologischen Kollaps nach wie vor als normal angesehen. Hunger, Fettleibigkeit, Verkehrsunfälle und Luftverschmutzung rechtfertigen keinen Ausnahmezustand – obwohl sie mehr Todesopfer fordern als Hunderte von Coronavirus-Pandemien zusammen.
Da nun die Weltwirtschaft ein kleines Nickerchen hält, wird das Coronavirus, dank der geringeren Umweltverschmutzung, wahrscheinlich mehr Leben retten, als es genommen hat. Bereits die Maßnahmen, um damit umzugehen – Sesshaftigkeit, übertriebene Hygiene und Medikation, soziale Distanz… – können mehr Gesundheitsprobleme schaffen als zu verhindern.
Auf der Bühne des Krieges kehren wir “weniger dringenden” Fragen den Rücken zu. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der durch Zivilisation verursachten Umweltzerstörung und der Ausbreitung von Pandemien? Welche positive Rolle können Viren für das Leben und die Gesundheit unseres Planeten spielen? Warum haben einige von uns leichte und andere schwere Symptome?
In Italien litten 99% der Verstorbenen bereits an anderen Krankheiten. Insbesondere an Bluthochdruck und Diabetes. Liegt das Problem im Virus oder in unserer schwachen Gesundheit? Die meisten von uns sind drogenhabhängig: süchtig nach Medikamenten, Kaffee, Alkohol, Tabak, Pornografie oder Serien. In Portugal hat sich der Konsum von Antidepressiva in den letzten Jahren verdreifacht, und stündlich versucht sich ein Mensch umzubringen.
Die Ökonomie des Geldes, die Trennung von einem Ort und einer Gemeinschaft, das Bildungssystem, die abwesenden Eltern bei der Arbeit, sinnlose Jobs – alles das lässt uns tief traumatisiert zurück. Die Älteren unter uns – die “Risikogruppe”, die wir so sehr retten wollen – ihr Leben ist reduziert auf die Wände des Altenheimes und die morgendliche TV-Sendung “Manhãs da Cristina”.
Welchen Sinn hat diese Bessenheit, den Tod zu vermeiden, wenn wir nicht danach streben, gut zu leben? Zu welcher Normalität wollen wir zurückkehren?
Die Coronavirus-Krise offenbart lediglich die Unsicherheit des Systems, in dem wir leben. Es kann nicht mit Masken oder Impfstoffen gelöst werden. Eher mit dem Fall der Masken – und mit einer Revolution.
Um in Ordnung zu sein, darf das Leben nicht zur Normalität zurückkehren.
In dem wunderbaren Essay, von dem ich mich inspirieren lasse, sagt Charles Eisenstein, dass die gegenwärtige Krise die Kraft unseres kollektiven Willens und die Schnelligkeit des Wandels zeigt, wenn wir in einer gemeinsamen Sache zusammenkommen. Wenn wir uns aufgrund dieser Pandemie so radikal verändern können, dann können wir das für jedes Thema tun, in dem wir uns einig sind, dass es wichtig ist.
Diese Krise kann schmerzhaft, heiter, beunruhigend und euphorisch sein. Aber Krise bedeutet nicht allein Schmerz, Gelassenheit, Angst, Euphorie. Es bedeutet “Moment der Entscheidung”. Die wichtige Frage heute ist nicht, wie viele der verlorenen Arbeitsplätze sich wieder erholen werden. Wieviel von allen Arbeitsplätzen, die für Menschen, die Gesellschaft und den Planeten schädlich sind, schaffen wir, für immer aufzugeben. Von all den Flugzeugen am Boden, wieviele davon werden nie mehr abheben – und in Museen, Fablabs, Bibliotheken, Therapiezentren oder Restaurants verwandelt werden.
Vom Straßenmusikanten, dessen Bühne menschenleer wurde, bis hin zum Piloten, der entlassen wurde, ist die Frage nicht, welche Kategorien von Betroffenen Unterstützung bekommen. Sondern, wenn wir gemeinsam einen mutigen und emanzipierten Schritt nach vorne machen, wie ein universelles bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt werden kann.
Im Angesicht der Angst können wir die innere Stasi wecken und den Nachbarn polizeilich überwachen, oder wir können Mitgefühl und Solidarität wecken. Wir können unsere Macht an Regierungen, Arbeitgeber, Ehemänner oder Grundbesitzer abtreten oder Verantwortung für unsere eigene Freiheit übernehmen. Wir können die Besessenheit nähren, alles zu kontrollieren – sogar den Tod – oder tanzend unsere wunderbare Verletzlichkeit akzeptieren.
Wenn ein Baum krachend kumstürzt, wächst der Wald in der Stille. In der Notlage können wir Geduld säen, um Böden und Dörfer, Nachbarschaften und Ödland, kooperatives und gemeinschaftliches Leben zu regenerieren.
In der Ferne können wir wiederentdecken, was uns verbindet. Aus der Isolation heraus können wir mit Durst nach Freiheit alle Orte der Abgeschiedenheit überfluten.
Aus dem Ausnahmezustand heraus können wir dauerhaft für uns selbst, für die, die wir lieben, und für die Bedürftigsten sorgen. Öffnen wir uns dem Schmerz, der Gelassenheit, der Angst oder der Euphorie der Person neben uns. Entdecken wir, dass unsere Gesundheit und die unseres Planeten eins sind.
Wir können die Vorstellung, dass nichts so außergewöhnlich ist wie das Leben, dauerhaft machen.
Leben ist mehr als ein Herz, das schlägt: Es ist ein Blick, der leuchtet. Vielleicht können wir uns selbst ohne Angst entdecken. Und entdecken Sie in uns selbst die sich verändernde Welt.