Samstag, der 13. März 2021
Vor ein paar Tagen wurde ich Zeuge einer sehr interessanten Vorstellung. Ich nahm an einer Video-Konferenz von 67 Menschen teil, auch um zu erfahren, wie sich die Situation des Waldes in Portugal verbessern könnte, aber auch, um meine Idee des Botanischen Waldgartens in Monchique vorzustellen. Doch auf einmal begann sich das Internet zu verselbstständigen. Jemand stotterte und stöhnte laut aus dem Dunkel des “www“ tierische Laute und wollte sich vermutlich auch irgendwie am Gespräch beteiligen, allerdings auf seine ureigene Art und Weise. Es sollte eine Komödie werden. Ich fand heraus, daß der Darsteller, er seine Identität nicht zeigen wollte, männlich war. Im akustischen Hintergrund tobten Kinder und spielten miteinander. Auch eine Frau war zu hören. Der Überraschungsgast, vermutlich ein arbeitsloser Komödiant, hatte sehr wahrscheinlich das Drehbuch nicht verstanden. Die Diskussion sollte erst nach vier Vorträgen stattfinden.
Es war auch deswegen so interessant, weil wir ja immer gesagt bekommen, ZOOM sei eine sichere Sache, so sicher, das man dem amerikanischen Betreiber Glauben schenken darf, seine Plattform sei absolut datenschutzsicher. Der Mann ohne Gesicht aus dem OFF aber rief immer wieder “Carralho” und wollte vermutlich nur “Carvalho” (Eiche) sagen, bekam das aber irgendwie nicht ausgesprochen. Wir müssen mehr Eichen pflanzen. Richtig, Eichen statt Eukalyptus!!! Dann malte er mit einem Stift auf die Power Point Präsentation des ersten Sprechers aus dem Tiefen des Webs einen Baum, der aussah wie ein Penis. Dieser Baum hatte zwei Hoden, obwohl ein Baum vermutlich nicht männlich aber ja, weiblich ist. Und Frauen besitzen bekanntlich keine Hoden. Oder doch? Nicht umsonst spricht man von Mutterbäumen, was der Besucher aus dem Darknet mit „filha da puta“ verwechselte. Amüsantes Theater? Nun irgendwie dauerte das eine halbe Stunde. Wir stellten das ZOOM Gespräch ab und logten uns neu wieder ein. Aber die Komödie hatte eine Fortsetzung und wollte auch nicht enden. Der Komödiant kaperte die Konten anderer ZOOM Teilnehmer und nahm verschiedene Identitäten an und malte seine Phantasien von seinem Wald auf die Bildschirme. Orwellsches Theater.
Ich lehnte mich zurück und bemerkte, daß sich in den Gesichtern vieler TeilnehmerInnen Betroffen- und Ratlosigkeit breitmachte. Stille. Der Schauspieler nannte sich Christiano Silva. Das war ein Künstlername. Er verwendete ein Pseudonym und wechselte es geschickt, so wie auch ich manchmal eines beim Schreiben benutze. Alles lief im Stil des sehr bekannten Vorstandsvorsitzenden eines im PSI20 vertretenen Unternehmens ab. Alle Anwesenden wurden mit interessanten Ausdrücken beschimpft. Ich fragte mich, wie viel Angst ein schlechter Schauspieler vor dem Wald haben muß, um sich so zu verstecken? Es ist ja nicht das erste Mal, daß Wirtschaftsführer sich als cholerische Dramaturgen entpuppen, wenn etwas passiert, was sie nicht steuern können, wenn ihnen etwas entgleitet, und sei es nur das eigene Gesicht. Ein Wald brennt ab und nichts passiert. Dann beginnen Leute den klandestin gepflanzten Eukalyptus auf den Plantagen wieder aus der Erde zu reißen. Geht es auch anders? Ich würde vielleicht auch irgendwann brüllen und schreien, wenn mir irgend etwas völlig gegen den Strich ginge. Aber irgendwann wurde Christiano Silva alias Alexandre alias Beta Veiga von dem ZOOM Gespräch ausgeschlossen. Der Regisseur aus Porto hatte endlich den Stecker gefunden und der wurde nun gezogen.
Nebenbei bemerkt ist das Tourette-Syndrom eine angeborene Erkrankung des Nervensystems. Hauptmerkmale sind unwillkürliche Bewegungen und tic-artige Laute oder auch sprachliche Äußerungen. Einfache motorische Tics können sich als Augenblinzeln, Naserümpfen, Kopfwerfen oder Grimassenschneiden äußern. Christiano Silva hat uns alle auf ein Problem in der Pandemie hingewiesen, das uns nun bereits ein Jahr in Schach hält: es gibt zu wenige Darstellungsmöglichkeiten. Die ZOOM Bühne aber muß ihn prächtig amüsiert haben. Er gab uns Beispiele für einfache vokale Tics. Das sind das Ausstoßen von bedeutungslosen Lauten oder das Nachahmen von Tiergeräuschen. Unter die Kategorie der komplexen Tics fallen im motorischen Bereich das imitierende Grimassenschneiden und das Nachmachen von Handlungen anderer. Komplexe vokale Tics sind das Nachsprechen von Wörtern oder das Herausschleudern obszöner und aggressiver Ausdrücke. Soweit, so gut. Aber wollen sich begabte Schauspieler nicht auch mal outen und uns nicht auch ihr Gesicht, wenigstens aber ihre Maske zeigen?
Das Tourette-Syndrom wird zu den zentralnervösen Bewegungsstörungen gerechnet, erfahre ich im Gespräch mit einem Psychiater. Primäre Tic-Störungen können weder geheilt noch ursächlich behandelt werden. Es stehen lediglich lindernde Behandlungsansätze wie Psychopharmaka zur Verfügung. Lalala. Das Tourette Syndrom wird nach dem französischen Neurologen und Psychiater Georges Gilles de la Tourette benannt, der das Krankheitsbild erstmals 1884/1885 auf Anregung seines Lehrers Jean Martin Charcot beschrieb. Die Frage, die mich beschäftigt lautet: Sollte die Zoom Video Communications, Inc. sich nicht bald einmal ernsthaft Gedanken über eine Handlungsanweisung machen, wie seine zahlenden Nutzer in Zukunft adäquat auf das Tourette Syndrom eingehen? ZOOM schreibt in seinen Benutzungsbedingungen: Ihre Privatsphäre zu schützen und ein positives Benutzererlebnis zu gewährleisten, ist unsere Verpflichtung, wenn Sie unsere Videokonferenz- und Kommunikationsdienste nutzen, unsere Websites besuchen, über soziale Medien interagieren… Ich für meinen Teil mag ZOOM als Plattform für Komödianten empfehlen. Da kann man sich immer auf unerhoffte Überraschungen gefaßt machen.