4. Folge
Madan erzählt über seinen Großvater
Als mich Madan in Kalimpong besuchte, erzählte er mir die Geschichten aus seiner Kindheit. Ich fragte und fragte, und er erweckte in seinen einfachen Geschichten, seinen Gesten, in seinem wechselnden Mienenspiel sein Bergdorf Merangdi in Nepal zum Leben. Die Geschichte über seinen Großvater hat mich am meisten fasziniert. Das ist sie:
Großvater war der Besitzer des Dorfhauses, in dem er selbstbewusst und zufrieden wohnte. Er war 84 Jahre alt. Nun, er sagte Madan, er sei 84, und seit einer ganzen Reihe von Jahren erzählte er den Senioren von Merangdi, er sei „mehr oder weniger achtzig“. Besucher informierte er allerdings, er sei 75. Seiner Familie sagte er vertraulich, er erhöhe oder senke sein Alter, um etwas Spaß zu haben. Oh, erst 75…, würden einige sagen; oh, schon 84 und noch so rüstig, würden andere ausrufen, und Großvater würde darauf sein charakteristisches Kichern produzieren.
Er genoss den Frieden und die Ruhe des Hauses. Wenn die ersten Morgenstrahlen den Balkon berührten, der an zwei Seiten des oberen Flurs entlang liefen, saß er gewöhnlich genau an dem Platz und wärmte sich. Er faltete seine Hände und machte es sich auf seiner Holzbank so bequem wie möglich. Großvater rückte mit der Sonne den Balkon entlang, er schloss seine Augen, um die Wärme umso mehr zu spüren. Von Zeit zu Zeit tastete er mit seinen Händen neben sich, um zu wissen, ob sein kleiner Hund immer noch neben der Bank lag und die Sonne genauso genoss wie er.
Großvater war fast blind. Seine winzigen Augen waren blutunterlaufen und leer. Er konnte nur große Gegenstände wie Schatten erkennen, und er spürte, wenn sich die Nacht auf die Berge senkte. Trotzdem wußte Großvater genau, wo er sich befand. Sein ganzes Leben hatte er in diesem Haus und in Merangdi verbracht. Niemals hatte er sein Dorf verlassen. Er „sah“ jeden Stein und jeden Busch. Langsam bewegte er sich mit Hilfe seines Knotenstocks im Hause und dessen Nachbarschaft umher, aber er strauchelte und stolperte nie.
Als Madan ein kleiner Junge war, würde ihn Großvater manchmal rufen und die Berge zeigen. Zuerst fragte er: „Madan, sieht du Wolken am Horizont entlang ziehen?“ Wenn Madan sagte: „Nein, baje“, dann fragte er weiter: „Bist du sicher, dass der Himmel klar ist?“ Wenn Madan antwortete: „Ja, baje“, befahl er Madan, sich genau vor ihn hinzustellen. Großvater legte seine linke Hand auf Madans schmale Schulter und seine rechte Hand hielt er vor Madan. Er zeigte nach vorn: „Schau her!“ Er nannte den Berg und bat Madan, ihn zu beschreiben. „Ja“, sagte Großvater und bestätigte den Namen. „Daneben, diese Richtung…“, Großvater bewegte seinen Finger ein winziges Bisschen nach rechts, „dort ist ein anderer Gipfel, der ist schneebedeckt, ich habe ihn noch nie ohne Eis gesehen, der heißt…“, und Großvater bat Madan, ihn zu beschreiben und den Namen zu wiederholen.
Großvater unternahm sogar kleine botanische Exkursionen mit Madan. Großvater hatte ihn dem Pflaumenbaum vorgestellt, der auf der anderen Seite des Kartoffelackers stand. Von dem Tag war der Pflaumenbaum Madans Freund.
„Erinnerst du dich, baje?“ Das ist schon lange her, viele Jahre!“ erinnerte Madan seinen Großvater.
„Ach was!“ widersprach Großvater. „Wir haben den Pflaumenbaum erst vor einem Monat zum ersten Mal getroffen.“
Von seinem blinden Großvater lernte Madan, wie man prüfte, ob ein Maiskolben reif zum Essen war. Er lehrte dem Jungen, wie er den Hörnern der Ziegen ausweichen musste, wenn er sie melkte, und Großvater mahnte ihn, die kleinen Wilderdbeeren zu pflücken, die an den Wegrändern wuchsen. „Pflücke jede, zusammen ergeben sie eine halbe Mahlzeit“, sagte er und versuchte, ein paar aus Madans kleinen Händen zu stibitzen.
Großvater trug seine alte Jacke, die fast bis zu den Knien reichte. Das war einmal eine großartige Jacke, die einem Gentleman alle Ehre machte, inzwischen war sie ein wenig verschmutzt und zerschlissen. Doch schützte sie ihn gegen den Wind. Manchmal würde Madan nachts neben seinem Großvater auf einem zweiten Holzbett schlafen, doch meist wollte der Großvater allein bleiben.
„Erzähle mir von meiner Familie“, sagte der kleine Madan häufig und machte es sich nach dem Mittagessen neben dem Großvater bequem. „Erzähl mir von meinen Onkeln und Tanten und allen anderen…“ Wenn Großvater nicht in Erzähllaune war, murmelte er, dass er ein Mittagsschläfchen brauche. Doch wenn er einmal ins Erzählen kam, wie er seine Familie aufgezogen hatte, dann stand er, inmitten seiner Erinnerungen, auf und sagte: „Komm mit, wir wollen sie alle besuchen.“
Madan wusste, dass er ihn zu dem Familientempel mitnehmen würde, der ein paar Minuten den Hang aufwärts lag. Großvater bestand darauf, ohne Hilfe, nur auf seinen Stock gestützt, hinaufzugehen.
Das war kein Tempel im üblichen Sinn. Es war ein heiliger Hain, der von einem niedrigen Zaun eingefasst war; darin wuchsen wildes Gras, einige blühende Büsche und kurze, kräftige Bäume. Zwischen den Wurzeln war ein Dutzend flacher Steine in den Boden gerammt, auf denen Namen eingemeißelt waren. Das kleine Eisentor, das in den Hain führte, war verschlossen, aber Großvater hatte einen Schlüssel, der an einer Schnur um seine Hüften hing. Er allein besaß einen Schlüssel. Er öffnete das Tor auch allein, obwohl seine blinden Hände eine Weile suchen mussten, bis sie das Schlüsselloch fanden.
Wenn sie im Hain standen, begann Großvater zu erzählen. Er kannte die Namen auf allen Steinen. Er zeigte auf jeden einzeln, denn er wusste genau, wo jeder stand. Großvater berührte einen und sagte: „Er war mein ältester Neffe, er wohnte im zweiten Haus unterhalb von uns, das nun seinem ersten Sohn und seiner Frau, die in Sallery geboren wurde, und deren Söhnen gehört.“
Großvater sagte den Namen seines Neffen, Suman, der ein Schreiner war, ebenso wie Madans Vater. Der Neffe hatte eine glückliche Hand , denn er konnte wunderbare Spielsachen aus Holz für herstellen, die er seinen Kindern und den Kindern von Merangdi schenkte und sogar auf den Märkten von Pattale Bazar und Sallery verkaufte. Seine Kinder sind jetzt alt, nur eines lebt noch im Dorf, die anderen haben sich in anderen Dörfern in der Umgebung niedergelassen.
Nachdem Großvater mehr über diese Kinder, die alle verheiratet waren und eigene Kinder bekommen hatten, die zur Schule gingen oder auf den Feldern arbeiteten oder weggegangen waren, um für Touristen als Bergführer zu arbeiten, erzählt hatte, fragte Madan: “ Wie hat dein Neffe ausgeschaut?“
„Du meinst Suman? Wie er ausgesehen hat? … Hat er irgendwie besonders ausgesehen?“ Großvater blieb in seinen Träumereien stecken. „Madan, du fragst allerlei ungewöhnliche Dinge“, gab Großvater, ein wenig irritiert, zurück.
„Oh, entschuldige, baje“, sagte Madan beschämt. „Er sah gewiss – stattlich aus.“
„Ja, ja, stattlich und nicht sehr groß und nicht wirklich klein. Er war stark, wie wir Bergleute von Merangdi eben alle sind, ja, ja…“
Madan war zufrieden. Nachdem Großvater noch einige Geschichten erzählt hatte, gingen sie ihm ein wenig durcheinander. Manchmal vergaß er, dass Madan neben ihm stand. Dann sprach er seine Verwandten an. Sein Finger zeigte auf einen Stein, über den er schon erzählt hatte. Diesmal war die Geschichte anders. Madan unterbrach seinen Großvater nicht. War es wichtig, welche Geschichte zu welcher Person gehörte und welcher Stein zu welcher Geschichte? Madan fand, es war nicht wirklich wichtig, aber er zögerte, Großvaters Meinung dazu zu erfahren.