Samstag, der 12. Dezember 2020
Bereiten wir uns auf einen kleinen Feldversuch vor? Gehen wir die Versuchsanordnung noch einmal in der Theorie durch? Nehmen wir an, wir bleiben von morgen an vier Wochen innerhalb der eigenen vier Wände, oder auf dem Grundstück, dessen Besitzerin wir sind. Wir bewegen uns also so wenig wie möglich, treffen uns mit niemand, gehen nicht zur Arbeit, nicht zur Schule und auch nicht in die Universität. Das Leben geht so weiter, aber etwas anders. Das Internet ist abgeschaltet. Es gibt kein Facebook, kein Instagram und auch keine WhatsApp. Das Fernsehprogramm ist ein Standbild. Einzig und allein das Festnetztelefon steht uns zur Verfügung, falls wir uns ein Bein oder sonst was brechen. Wir haben heute noch einmal die Möglichkeit, so richtig einkaufen zu gehen und uns alles zu besorgen, was wir in den nächsten vier Wochen zum Leben benötigen: Seife, Zahnpasta und Deodorant, Brot, Käse und Gemüse, Früchte und so weiter. Der Einkaufszettel liegt auf dem Tisch. Haben wir dem noch etwas hinzuzufügen? Toilettenpapier? Strom und Wasser sind bezahlt. Der Feldversuch könnte eigentlich jetzt beginnen.
Aber halt, haben wir wirklich an alles gedacht? Müssen wir nicht noch einmal darüber nachdenken, was wir jeden Tag mit unserer Zeit alles anfangen können? Wie bereiten wir uns weiter auf dieses Abenteuer vor? Wir nehmen uns für jede Woche ein schönes Buch mit und erleben im Geiste bereits alle Annehmlichkeiten unseres Zuhauses. Aufstehen oder im Bett bleiben entscheiden wir von nun an selbst. Wir sind keine Getriebenen eines Vorgesetzten einer Firma mehr. Wir übernehmen selbst. Kaffee kochen ohne Druck, Frühstücken ohne den Blick auf die Uhr. Wer schon einmal in einem Schweigekloster eine Woche verbracht hat und dort eine Zelle für sich in Anspruch nehmen konnte und den Blick auf die weiße Wand, hat bereits einen kleinen Vorgeschmack auf das mitnehmen können, was in der Abgeschiedenheit alles passieren kann.
Um 4h30 läuten ganz fein die Glöckchen. Wir ziehen uns an, gehen von der Zelle in die Sakristei und von dort zum Singen. Der Gesang dauert eine Stunde. In den Pausen wird nicht gesprochen. Danach Frühstück, ein Kollege von uns, der nicht wie wir den Alltag im Kloster probeweise erlebt, sondern bereits seit 30 Jahren dort wirklich zuhause ist, liest ein wenig aus einem Buch die Morgenandacht. Wir trinken einen heißen Tee und essen ein Brötchen. Oder wir beginnen den Tag ein wenig anders.
Wer schon einmal eine Woche im Knast verbringen durfte, nur mal so zum Ausprobieren, bekommt ein wenig Ahnung davon, was jetzt passieren wird. Wer keine Anstaltskleidung tragen möchte, bekommt eine geschlossene Einzelzelle und hat nur einmal am Tag eine Stunde Hofgang. Auf dem Tisch liegt ein Bleistift und ein Block mit weißem Papier. Einmal die Woche Rudelduschen.
Wir sind doch neugierig, machen bei allem mit, bei dem gefilmt wird und zeigen uns auf jedem Foto und erzählen an jeder Ecke im Internet, was wir so gerade machen. Wir sitzen in einem Container bei Big Brother irgendwo in Australien und nehmen an einer Show teil, die sich Holmichhierraus nennt. Wir aber bleiben vier Wochen im Container und zeigen uns von unserer wahren, echten und wirklichen Seite. Authentizität nennt sich das. Statt eines Psychologen, der eine Ratte im Käfig beobachtet, schauen wir uns selbst bei der Selbstbefriedigung zu.
So. Und nun gehen wir in unseren Käfig im achten Stock unseres Hochhauses, erleben uns als Familie, mit einem Kind oder mit mehreren, jeden Tag von morgens bis abends und das ganze 28 Tage lang, oder allein als Single. Wir bedienen die Klospülung ein paar Mal am Tag, duschen abwechselnd mit warmen und kaltem Wasser ausgiebig und beginnen unsere Quarantäne guten Mutes. Wir sind ja Optimisten. Wir führen abends ein Tagebuch und schreiben auf, was wir den lieben langen Tag so alles gemacht haben. Auch wenn wir nichts gemacht, weil wir über uns nachgedacht haben, so schreiben wir unsere Gedanken auf, die sich ganz sicher mit etwas beschäftigt haben, das wir sehr lange vernachlässigten. Aus all dem wird eine Geschichte, eine wahre oder eine erfundene und dann, nach der ersten Woche, nach der zweiten Woche, nach der dritten Woche – sind wir ganz bei uns selbst angekommen – beginnen wir, uns über unsere Zukunft Gedanken zu machen. Wir können uns natürlich auch den Kopf blutig an der weißen Wand schlagen. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Was werden wir in unserem Leben zum Besseren verändern? Was werfen wir über Bord? Wir genießen die Ruhe, die Stille und auch den Lärm von den Nachbarn, die sich laut streiten und nicht zu sich selbst finden können. Wir lachen über uns selbst. Wir freuen uns auf das Mittagessen, denn Kochen bedeutet wieder, sich etwas Gutes tun. Slow Food war bisher sowieso nur ein Schlagwort, jetzt leben wir es zum ersten Mal. Was machen wir aus unserem Leben, mit unserer Zeit, was machen wir aus uns? Stellen wir uns vor, wir alle würden uns mal für 28 Tage abschalten. Die Gedanken sind frei.