Samstag, der 31. Juli 2021
Wäre es eine Komödie im Theater und könnte man einfach nur mal wieder richtig laut darüber lachen oder seufzen, sich ablenken, dann könnte diese Geschichte ein richtiges Happy End haben. Es käme vielleicht eine Erfolgsgeschichte dabei heraus, wenn wir neben den vielen kleinen auch die großen Probleme damit gelöst bekämen. Nicht wahr? Wollen wir eine solche Geschichte hier überhaupt lesen?
Das Leben braucht eine gewisse Orientierung, ruft der Clown in die Manege und meint die vier Jahreszeiten, an denen er sich festhält. Sehen Sie diesen Clown vor sich, wie er da die Treppe hochgeht, um seinem Publikum zu zeigen, daß er fliegen kann? Im Frühling an die Algarve, im Sommer nach Mallorca, im Herbst fliegt er in die Karibik und im Winter auf die Kapverden. Doch da stürzt er und hält auf einmal das ganze Geländer der Treppe in der Hand und auch, weil der Boden unter seinen Füßen wegbricht. Er purzelt … in den Sand. Alle lachen, weil es einfach komisch ist, was da gerade passiert. Können wir das? Über uns selbst lachen? Und über die anderen? Geteiltes Leid sei halbes Leid, sagt man. Es regnet, es blitzt und donnert. Das Wetter wechselt von einer Minute zur anderen. Es schneit, es hagelt, es brennt. Das Zirkuszelt wackelt. Uns allen ist das Lachen mit und nach den Waldbränden vergangen. Auf einmal ist alles weg. Haus, Hof und Tiere. Sogar ein Zirkuszelt ist vor keinem Waldbrand sicher. Und wenn wir mal genau hinschauen, dann gibt es immer mehr solcher Orte auf diesem schönen blauen Planeten, in denen die Leichtigkeit des Seins der Schwere der Armut weicht. Das alles hat seine Gründe, nicht wahr? Wie sollen wir das Leben betrachten? Als Komödie? Als Tragödie? Gibt es einen besseren Weg?
Die Geschichte des Clowns im Zirkus können wir auf vielfältige Weise weitererzählen und zu einem guten Ende bringen. Wir können die Dramaturgie aber auch ändern. Dann wird die schöne Geschichte zu einer eher häßlichen, zu einer Tragödie. Muß das denn sein, werden einige fragen? Ein Waldbrand zerstört das Hab und Gut eines Imkers. Das war vor zwei Wochen. Ein Starkregen macht aus einen Bach in Minuten eine Sturzflut, nimmt sich ein Haus und mehrere andere und verschlingt sie. Gerettet sind die dort auf dem Dach sitzen. Kein Zirkus. Das war letzte Woche. Da sind Leute in einem Gummiboot und wollen von Afrika nach Europa. Einige werden gerettet, andere ertrinken. Das war diese Woche, wie jede Woche. Jede Woche schauen wir zu, wie andere Menschen uns Theater geben. Sie haben ihr Zuhause verlassen oder auch verloren, weil dort der Krieg wütet, eine Dürre oder Hungersnot ihnen kein Leben mehr ermöglicht. Sie werden gerettet oder auch nicht. Welche Geschichten erzählen wir uns und wie bebildern wir sie? Und was machen wir daraus?
Wir sehen den gestürzten Clown, der nun Besuch von einem anderen Narren in der Manege bekommt. Er legt vorsichtig das Treppengeländer aus der Hand, putzt sich den Staub von der Jacke und wird erst einmal ein wenig verarztet. Er weiß, wenn er die Treppe hinaufsteigen will, muß er seine Herangehenweise, seine Lebensweise verändern. Wo wollte er noch mal hin, als er die Treppe hinaufstieg? Er wollte fliegen? Er wollte andere Länder sehen? Leicht und beweglich sein, wie ein Vogel? Na dann…
Hast du kein richtiges Zuhause, fragte der Narr den Clown? Warum willst du fliegen und wohin? Machen nicht viel zu viele Flieger unseren blauen Planeten von Jahr zu Jahr unbewohnbarer? Die Anzahl der Unwetter, das Chaos des Wetters zwischen Hitze, Sturm und Regen, die Temperaturschwankungen und der Streß, sie nehmen ständig zu, oder etwa nicht? Dicke Luft da oben! Die Orientierung an den vier Jahreszeiten gibt es nicht mehr, Herr Kollege, meint der eine zum anderen ganz ruhig. Das Leben wird zu einer Linie und war doch lange Zeit ein Kreis. Wo ist er hin? Bei immer mehr Menschen machen sich Streß und Panik breit. Sie werden krank, weil sie die Orientierung verloren haben. Können wir Spaßmacher das ändern? Oder spielen wir nur mit den Geschichten, wie hier im Zirkus? Jeder könnte mitmachen. Sogar der Geschichtenerzähler selbst. Wir alle wissen, daß Klima macht das Wetter. Gutes Wetter, schlechtes Wetter. Frische Luft hier unten!
Meint der Narr zum Clown: unser Klima braucht viele Geschichten des Gelingens. Man nennt das Verbindlichkeit. Erwidert der Clown: die Perspektive vom 1,5 Grad C Ziel gewinnt nur an Kraft, wenn konkrete Taten unseren Worten folgen. Das nennt man Glaubwürdigkeit. Willst du wirklich so weitermachen wie bisher, fragt der Narr den Clown? Fliegen ist Freiheit pur, bekommt dieser zur Antwort. Wenn du dich verlangsamst, bräuchtest du das Fliegen gar nicht mehr und verbesserst das Klima darüber hinaus: langsamer und gesünder essen, besseren Sex und genau hinschauen, wohin du den nächsten Schritt setzt? Ausruhen. Wie wäre es mal mit Ausruhen? Statt Kinder machen.
Resigniert sagt der Clown Ich hatte viele Jahre Zeit, mich anzupassen, mich umzustellen, mich weiterzuentwickeln. Aber ich habe nur viel geredet und wenig draus gemacht. Ich wollte reisen, ich wollte fliegen und mir die Welt angucken, so habe ich mir immer das Leben vorgestellt. Erwidert der andere: Unsere Kunst wird verschwinden und uns alle in den Abgrund reißen, wenn die Kapelle den zahlenden Gästen weiter nur zum Tanz aufspielt…
Nicht nur im Westen Kanadas brennen die Wälder seit Wochen. Jeder Waldbrand, egal wo auf der Erde, ist ein Waldbrand zu viel, sagt der Kommentator. Das Ziel muß lauten: alles zu tun, um sicherzustellen, daß es in Zukunft keine Waldbrände mehr gibt. Alle können dabei mithelfen. Pflanzen wir viele neue Bäume, statt ihnen beim Verbrennen zuzuschauen.
Wäre die Lage nicht so ernst, wäre es eine Clownerie im Zirkus und man könnte einfach nur mal wieder laut darüber lachen oder seufzen, sich ablenken, dann könnte diese Geschichte ein richtiges Happy End haben. Oder sollten wir besser etwas genauer draufschauen? Es wäre eine Erfolgsgeschichte, wenn wir neben den vielen kleinen auch die großen Probleme damit gelöst bekämen. Nicht wahr? Es liegt an uns. Das Leben braucht eine gewisse Orientierung, ruft der Clown und geht. Der Vorhang fällt.
Heinrich Böll (21.12.1917 bis 16.7.1985) gilt als einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller von Romanen, Hörspielen und Kurzgeschichten des 20.Jahrhunderts. Im Jahr 1972 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Er arbeitete mit seiner Frau Annemarie auch als Übersetzer englischsprachiger Literatur ins Deutsche.